Erfolgreiche Unternehmen bieten Produkte und Dienstleistungen, welche Probleme lösen oder ein Bedürfnis ihrer Zielkunden befriedigen. Diese Zielkunden zu identifizieren und vom ersten Berührungspunkt bis zur Vertragsunterzeichnung zu begleiten, ist Aufgabe einer Abteilung die sich Sales & Marketing oder ähnlich nennt. Wenn der Kunde unterschrieben hat, übernimmt dann eine andere Abteilung. Sie ist darauf spezialisiert, den neuen Kunden mit den Produkten und Dienstleistungen glücklich zu machen. Diese natürliche Gewaltentrennung kennt man im HR jedoch kaum. Warum eigentlich?
Es ist gängige Praxis und ein weit verbreiteter Irrglaube, dass das Recruiting ein integrierter Teil der Personalabteilung sein muss – einfach, weil es immer so war. In Wirklichkeit unterscheiden sich die Aufgaben von Recruitern kategorisch von denen ihrer Kollegen in der Personalabteilung. Die meisten Recruiter, die ich kenne, sehen es sogar fast als Beleidigung an, mit HR identifiziert zu werden. Warum? Weil Recruiting – wie im einleitenden Beispiel beschrieben – viel mehr mit Verkauf und Marketing vergleichbar ist. Und da arbeiten nun mal ganz andere Menschen.
Recruiting ist Verkauf. Recruiter «verkaufen» Ihr Unternehmen bzw. den Arbeitgeber dem Rest der Welt. Recruiting ist Marketing. Mit den gleichen Prinzipien wie Ihre Marketing-Mitarbeitenden generieren Recruiter «Leads» in Form von Bewerbern für offene Positionen. Dieselben Recruiter nehmen diese Leads auf, kontaktieren sie, bestimmen, welche es wert sind, weiter verfolgt zu werden, und befördern sie durch den «Recruiting-Trichter». Mit dem kleinen Unterschied, dass dieser Trichter dazu führt, dass jemand Mitarbeitender wird, anstatt Kunde. In Wirklichkeit verkaufen Recruiter sogar zweimal. Sie verkaufen dem Kandidaten den Job und sie verkaufen dem einstellenden Manager den Kandidaten.
Recruiting-Profis kommen selten aus dem HR
Eine Berufsgattung, welche sich professionell damit beschäftigt, geeignete Mitarbeitende für eine Vakanz zu finden, sind die seriösen Personalvermittler und Headhunter. Es überrascht kaum, dass die meisten dieser Berater nicht über eine Karriere in der Personalabteilung zu diesem Job kamen. Fast alle fanden den Weg aus dem Business und waren typischerweise in Vertrieb, Marketing, Technik oder Finanzen tätig. Mit «seriös» schliesse ich übrigens explizit die zahllosen Vermittler der Kategorie «Dossier-Schieber» aus. Würde Recruiting zu den Kernkompetenzen des HR zählen, gäbe es diese Industrie nämlich gar nicht.
Warum tut sich HR das Recruiting an?
Das HR-Management ist ein enorm umfangreiches Fachgebiet. Mit der Personalplanung, -verwaltung, -entwicklung und -kommunikation hat HR weiss Gott bereits genug am Hut, auch ohne Recruiting. Wer sich für eine HR-Laufbahn entscheidet, macht dies in der Regel nicht, weil verkaufen seine Passion ist. Und seien wir ehrlich: Die Entscheidung darüber, wer letztlich eingestellt wird, fällt ohnehin die Linie. Das ist auch gut so, weil das HR für die Qualität der Einstellungen weder belohnt noch verantwortlich gemacht wird. Da es fürs HR beim Thema Recruiting also mehr zu verlieren als zu gewinnen gibt, sollte es sich des Themas entledigen.
Recruiting ausserhalb des HR
Ausgeprägte Vertriebskompetenz ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Recruiters. Recruiter müssen in der Lage sein, Beziehungen aufzubauen sowie die Mentalität eines Jägers und starke kommunikative Fähigkeiten haben.
Diese Fähigkeiten haben Sie als Arbeitgebender (hoffentlich) bereits in Ihrem Vertriebsteam. Warum machen Sie die Suche nach neuen Mitarbeitenden nicht zu dessen Aufgabe? Sie haben die Fähigkeiten und die Mentalität dazu. Integrieren Sie die Rekrutierungsfunktion in Ihr Sales- und Marketing-Team und vergüten Sie sie so, wie Sie Ihr Verkaufsteam entlohnen. Ermöglichen Sie ihnen, den Rekrutierungsprozess neu zu denken, um grossartige Kandidaten so zu finden, wie sie grossartige Kunden finden würden.
Ohne das Recruiting hat HR mehr Zeit dafür, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich die bestehenden Mitarbeitenden weiterentwickeln können, glücklich sind und dem Unternehmen länger erhalten bleiben. Letztendlich braucht es dann auch weniger Recruiting…
Anm. d. Red.: Raphael Ineichen betreut ab sofort unsere Rubrik «Recruiting». Herzlich Willkommen in der HR Today-Blogger*innen-Community!
Toller Artikel und sehr gut erklärt, was die Aufgaben des Recruiting und HR sind.
Diese angesprochenen Funktionen würde ich jetzt mal als Sourcing und Recruiting bezeichnen. Daher nichts neues. Rund um das Sourcing hat sich eine ganze Industrie entwickelt – Head Hunting.
Im Blog wird Recruiting mit Verkauf gleichgesetzt. Wenn mit Verkaufen, Informieren, Beziehungsaufbau und Beziehungspflege gemeint ist mit einem Dialog auf Augenhöhe, dann ok.
Wenn Verkaufen, nur Vorzüge aufzeigen, leere Versprechen machen und schnell abschliessen bedeutet, dann viel Spass mit der Frühfluktuation.
Interessanter Ansatz. Meine Meinung ist auch, dass die Linie, das Team, die Abteilung, selber den Job an die Kandidatin oder den Kandidaten «verkauft». Das HR deckt den Teil ab, als neutrale Fachstelle die Rekrutierung von Anfang bis zum Schluss zu begleiten, die Kandidatin oder den Kandidaten mit einzuschätzen und die Linie entsprechend zu beraten. Praktisch alle VG schätzen diese Unterstützung. Die Gesamtheit führt zum Erfolg.
Ich habe während 35 Jahren im HR in Firmen mit beiden Modellen (Recruiting insourced und outsourced) gearbeitet. Meine Erkenntnis: Sourcer o.k., aber die wichtigste Erstperson für den «Positionsverkauf» ist und bleibt eine Person im HR, weil sie als Mitarbeitender die Firmenkultur, die Teams, den Vorgesetzten, Compensation-Struktur, die Selektionsinstrumente und Interviewtechniken kennt und damit eine Qualität des Selektionsprozesses sicherstellt, die von weniger spezialisierten Leuten nicht erreicht werden kann.
Dieser Text entbehrt jeglicher Recruiting-Kompetenz. Ein Marketer, der auch noch Eignungsdiagnostik beherrscht, habe ich noch nie getroffen…
2015 habe ich als Konzern-Personalleiter die vom Bundesverband der Personalmanager publizierte Broschüre «Der Personalstratege konkret» verfasst (auch heute noch auf der BPM-Homepage abrufbar). Im vorletzten Absatz des Fazits steht: Der Personalstratege braucht «(…) Elemente der Persönlichkeit und der Einstellung eines Vertrieblers (…).»
Das gilt weiterhin – aber nicht nur für das Recruiting, sondern für den gesamten HR-Bereich. HR braucht eine innere Erneuerung, sonst macht es sich in der Tat überflüssig. Das Recruiting als Core Function von HR allerdings an den Vertrieb abzugeben, davon rate ich ab. Der Erfolg stellt sich nicht mit dem Sourcing guter Kandidaten ein. Der Erfolg stellt sich ein, wenn diese Kandidaten im Unternehmen durch gute Passung und Cultural Fit, durch benötigte Zukunftskompetenzen und Lernfähigkeiten herausragen. Dass der Vertreib eines Unternehmens auf diesem Gebiet auch nur annähernd so viel Kompetenz mitbrächte, wie die HR-Abteilung, darf man guten Gewissens bezweifeln.
Im Übrigen kommt mir die Rolle des Hiring Managers in diesem Beitrag zu kurz. Gutes Zusammenspiel, Vertrauen und Verständnis zwischen Hiring Manager und Recruiter sowie deren gemeinsam ausgeübte Verantwortung für die Präsentation des Unternehmens, der Rolle und der Rahmenbedingungen, sorgen für nachhaltigen Erfolg.
Werter Herr Fichtner, ich stimme Ihnen in den meisten Punkten zu, jedoch nicht bei der Aussage: «Der Erfolg stellt sich nicht mit dem Sourcing guter Kandidaten ein.» Der Erfolg stellt sich vielleicht nicht alleine damit ein, aber bestimmt nicht mit dem Sourcing durchschnittlicher oder gar schlechter Kandidaten. Ohne gutes Sourcing (Vertriebler würden es «Prospecting» nennen) wird es die erwünschte Passung und Cultural Fit kaum geben.
Natürlich hat der Autor Recht, dass hier auch Kompetenzen gefragt sind die im Bereich Marketing oder Vertrieb liegen. Deswegen das Recruiting vom HR abzutrennen halte ich indes für einen grossen Fehler. Mitarbeitende sind doch in den meisten Unternehmen das höchste Gut. Ich gebe nicht die Auswahl der geeignetsten Menschen an einen Personenkreis, der sich in der Regel überhaupt nicht für Menschen interessiert.
Die guten Recruiter sind extrem nah an der Linie, kennen die Teams und Vorgesetzte und sind immer auf der Suche nach dem perfekten Match. Sie erkennen Potentiale, denken auch mal kreativ über den Tellerrand und sind natürlich mit den anderen HR-Bereichen extrem verwoben. Natürlich ist ein enger Austausch über die Personalveränderungen (Personalentwicklung, Personalplanung, Gesundheitsmanagement, Administration) nötig, weil man immer wissen muss: wer kommt aus der Elternzeit zurück, geht in Rente, macht eine Eingliederung, will sich verändern, hat gekündigt usw.
Ich könnte hier ewig weiterschreiben, aber Sie sehen meinen Standpunkt: Ich halte es für keine gute Idee. Ich würde auch andersrum keinem Unternehmen empfehlen den Vertrieb an die Recruiter abzugeben, weil die das besser können. Können sie nämlich auch nicht, weil sie nicht so tief in der Vertriebsplanung stecken.
Ich kann mich dem leider nicht so recht anschliessen. Ich finde es eher wichtig, eine Persönlichkeit als dedizierten HR-Rekrutierer*in in der HR-Abteilung zu haben, welche sich dem Thema komplett annimmt. Rekrutierung ist ein Fachgebiet, welches auch Fachkenntnisse benötigt und in der Regel bringen Fachvorgesetzte diese nicht mit. Ein guter HR Rekrutierer*in ist für mich ein stückweit unabdingbar. Der Wirkungskreis ist um einiges grösser, als nur Rekrutierung.
Hallo Max, dedizierte Spezialisten innerhalb der HR-Abteilung aufzubauen (Sourcer, Online Marketer, Recruiter, HR-Tech-Spezialisten) ist eine gute Idee, bedingt aber eine gewisse Unternehmensgrösse. Dies ist leider bei den meisten Unternehmen nicht gegeben.
Compensation & Benefits auslagern, Training auslagern, Social Media Communication auslagern, Recruiting auslagern…
Was bleibt? Wenn HR nicht die Ambition hat, die zukünftigen Talente zu finden, dann kann sich HR aus dem Recruiting ruhig verabschieden – dies wohl auf dem Weg zur vollständigen Auflösung.
Wie recht Max Becker doch hat – wie fast immer.
Trotzdem: In meiner HR-Karriere war ich in der Zeit im Recruiting am erfolgreichsten, als ich einen Vollprofi-Recruiter bei mir hatte (der nicht aus dem HR kam, aber an mich berichtet hat). Die Gesamtverantwortung muss bei HR bleiben.
Ich gebe dem Autor zur Hälfte recht. Was er in seinem Artikel beschreibt sind jedoch die Aufgaben eines Sourcers, nicht die eines Recruiters: Der Sourcer bemüht sich darum, (einigermassen!) passende Kandidaten zu identifizieren und für die Unternehmung zu begeistern. Der Recruiter ist dafür zuständig sicherzustellen, dass die Interessenten auch tatsächlich zu Job, Team, Vorgesetzten und Firma passen. Dies erfordert psychologisches Know-how. Man muss etwas davon verstehen, wie man Anforderungen an einen Job richtig erhebt (in den allermeisten Fällen ist die Ursache für Missmatches an einer oberflächlich gestalteten Stellenbeschreibung zu suchen), wie man das bei Kandidaten valide prüft (das ist eine Disziplin für sich) und wie man Vorstellungsgespräche professionell führt (auch hierfür braucht es Spezialkenntnisse). Die Firma zu verkaufen ist die eine Sache – die richtigen Fragen auf die richtige Art zu stellen die andere. Das können Verkäufer in der Regel nicht.
Danke für den Kommentar. Ich verstehe Ihre Einwände und kann sie bedingt nachvollziehen. Letzlich kommt es stark darauf an in welchem Umfeld rekrutiert wird. Und Verkäufer die nicht zuhören können sind keine guten Verkäufer.
Das ist ein sehr interessanter Gedanke. Dann hat aber konsequenterweise die Rubrik «Recruiting» im HR Today nicht wirklich viel verloren.
Touché !
1000 Punkte!
Ein sehr interessanter Gedanke, den ich nur unterstützen kann!
Meiner Erfahrung nach wird die Rekrutierung in der Schweiz häufig noch sehr stiefmütterlich betrieben. Definierte Prozesse und entsprechende E-Recruiting-Tools sind meist nicht vorhanden, was sich letztlich auf eine schlechte Rekrutierungs-Performance niederschlägt.
Für mich ist auch ganz klar, dass da Profis ans Werk müssen, vor allem weil das Thema auch durch die Digitalisierung vielseitiger und komplexer wird. Die Verbindung mit Sales & Marketing finde ich ein sehr spannender Ansatz, nur würde ich eher sagen Marketing & Communication wäre für mich noch ein wenig treffender. Denn häufig mangelt es an der externen Kommunikation zu den Bewerbenden, aber auch intern bei der Weiterleitung und Verarbeitung der Bewerbungsdossiers.
Ein spannender Gedanke, das Recruiting komplett auszulagern. Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass HR und Recruiting getrennt werden sollte, aber dies auch gleich in Sales & Marketing zu geben, darauf wäre ich nicht gekommen – danke für die Inspiration! :-)
Recruiter brauchen Marketing-Kompetenzen – diese Aussage unterschreibe ich sofort! Unternehmungen wollen aber nicht irgendeine neue Mitarbeiterin, sondern eine, die die entsprechenden Kompetenzen (hard und soft skills) mitbringt, in die Unternehmung und ins Team passt. Zudem soll die Jobsituation realistisch, d. h. mit allen Herausforderungen und auch heiklen Themen aufgezeigt werden. Ansonsten sind die eingestellten Personen mindestens so rasch wieder weg, wie sie gefunden werden. In diesen Punkten sehe ich nicht die Stärken der Verkäuferinnen, sondern der HR-Fachleute. Die Herausforderung ist, dass nicht zwingend die besten, sondern die passenden Mitarbeitenden gefunden werden müssen.
Sehe das genau so wie Sie!
Absolut richtig, es braucht die passenden Mitarbeitenden, welche dem Unternehmen länger erhalten bleiben und einen wertvollen Beitrag leisten. Das hat nie jemand in Frage gestellt. Ein guter Verkäufer verkauft dem Kunden jedoch nur etwas, das ihn längerfristig auch Freude bereitet. Alles Andere wird früher oder später zum Bumerang.
Ich habe in meiner Marketing- & Sales-Karriere sehr viele Verkäufer erlebt, die sich nicht um die «Kunden-Freude» gekümmert haben und weg waren, bevor der Boomerang zurückkam.
Nur die wirklich guten Verkäufer geben Acht auf die Kundenbedürfnisse – und diese sind in einer Minderheit.
Denn im Sales zählen ja bekanntlich mehr Umsatz-Zahlen (hard facts) als gute Kundenbeziehungen (soft facts) und der Langfrist-Horizont wird häufig ausgeblendet, da die Quartals- und Jahreszahlen wegen den Boni meistens im Vordergrund stehen.