Karriere? Kannste knicken!

Die klassische Karriereleiter ist Geschichte. Und damit sind Arbeitgebende wie Arbeitnehmende überfordert. Nach wie vor gehören lückenlose Lebensläufe, die bis ins Pensionsalter Stufe um Stufe branchenkonform ansteigen, zur bevorzugten Erstlesung im Recruiting. Damit verbunden zeigt sich, dass konventionelle Karriereanreize Arbeitsbeziehungen schwächen und für performante Organisationen nicht zweckdienlich sind, wenn sie starr eingesetzt werden.

Meine Frage an einen Job Coachee, was seine Erwartung an seinen nächsten Arbeitgeber seien, hallt noch im Raum, wie ich seine Antwort verdaue:

«Flache Hierarchien und gute Aufstiegschancen.»

Diese paradoxe Aussage lässt mich nachhaltig grübeln, wie wir neue Karrierebilder wertschöpfend in unsere Arbeitswelt integrieren und sinnstiftend Orientierung schaffen.

Vielleicht gehören Sie zu einem HR-Team eines Unternehmens, das täglich derartig widersprüchlichen Anforderungen begegnet. Trotzdem setzen Sie viel daran, bei Ihren künftigen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern in die engere Wahl zu kommen:

  • Sie achten darauf, dass Sie einen vertrauenerweckenden Kontakt herstellen, damit Ihr Gegenüber eine gesunde, sichere Bindungserfahrung macht.
  • Sie fragen im Erstgespräch, was Sie tun können, damit sich der Leistungsanbieter für Ihre Stärken und Talente entscheidet.
  • Sie wagen eine gewinnende Offenheit und üben radikale Transparenz in Ihrer Gesprächskultur.
  • Sie hadern nicht und freuen sich auf einen baldigen Arbeitsbeginn, wenn Sie sich verliebt haben.

Wenn Sie jetzt da oder dort beim Lesen gestolpert sind und dachten: «Das ist doch verkehrt», sind Sie auf der richtigen Spur. Bei einer Sockelarbeitslosigkeit von 2 Prozent steigt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmenden. Verschärft wird dies dadurch, dass sich gegenüber August des Vorjahres die offenen Stellen um 16,8 Prozent (Quelle: Statista) erhöht haben. Der neue Arbeitnehmer wird zum Arbeit-Geber und durch ein erstarkendes Selbstbewusstsein bestenfalls zur aktiven Mitgestalterin Ihrer Organisation.

Das ist unbequem und bringt Dynamik in die Employer Retention. Individuelle, selbst gewählte Karrieren zu begleiten, wird zu einer Hauptaufgabe des Unternehmens. Als Anstellungsinstanz oder Freelance-Optionen-Schafferin verantworten Sie die unvorstellbarsten und doch realsten Lebenspläne alter wie junger Karrieregeiler mit.

Bei Karrieregeilheit denke ich erst an Leistungsorientierung und Einkommensmaximierung mit maximaler Nutzenabschöpfung. Natürlich: Es gibt Menschen, die folgen ausbeuterischen Mustern, benötigen übermässig narzisstische Zufuhr oder können durch Illusionen zu hohen Anpassungsleistungen geködert werden. Aber:

Sind Sie sich klar,

  • ob Sie solchen Persönlichkeiten auf ihrem Karriereweg die Steigbügel halten wollen,
  • ob Sie mit Machtausübung Ordnung im Stall halten wollen oder
  • ob Sie einem ko-kreativen und kooperativen Kulturmodell bei jeder Rekrutierung konsequent einen Steilpass geben?

Einer meiner Freunde liebt es, den Fachkräftemangel durch den Begriff Arbeitgeberüberschuss zu ersetzen. Das führt in Arbeitgeberkreisen zu einem Stirnrunzeln über die zu Ende phantasierte Konsequenz.

Wie wird es sein? Wer wird an der Ziellinie das Rennen machen? Eine Antwort darauf kann ich als Organisationsentwickler nicht geben – eine Zauberkugel gehört nicht zu meiner Moderationsausrüstung.

Ich bin lediglich überzeugt, dass diejenigen, die es verstehen, ihre Karrierebilder zu verhandeln, die Nase in der «Art of Recruiting» vorne haben dürften. Sicher, das benötigt Rollenklärungen, eine adäquate Resilienz und beiderseits einen ehrlichen realistischen Bedürfnisabgleich. Das ist tiefe Beziehungsarbeit und kann mit digitalisierten Standardprozessen kaum geleistet werden, um richtig geil zu werden.

Bleiben Sie gewohnheitsmässig in der Vorstellung über die Dominanz von Arbeitgebern im Buhlen um Fach- oder schlicht Arbeitskräfte und zelebrieren weiter den «War of Talents»?

Idealerweise verharren Sie dann ausschliesslich bei standardisierten Homeoffice Reglementen, leistungsbetonten Incentivierungen, hohen nicht ausgeschöpften Weiterbildungsbudgets und fiktiven Karriereplänen für den Status quo. So kann es weitergehen mit leeren Versprechungen und enttäuschten, sinnentleerten Menschen in Organisationen. Meine Frage: «Gibt es einen Ausweg?»

Ja. Gesegnet sind diejenigen, die sich mit ihrem Pippi Langstrumpf Syndrom (PLS) eine eigene Welt erschaffen, in der die persönliche Entwicklung dem eigenen Denken und der Intuition folgen. Und was Pippi kann, können Fritz und Fränzi auch: «Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.»

Wer PLS als Hinderungsgrund für zukunftsfähige Organisationen reflexartig abwertet, steht sich selbst im Weg. Denn Phantasie, gepaart mit wechselseitigem, vertrauensvollem Gestaltungswillen hin zu einer echten Bezogenheit, schafft Arbeitswelten, von denen Viele nicht zu träumen wagen.

So stürzen Karriereleitern weiter ein und werden zu wahlweise knickbaren Lebensläufen. Daraus entstehen in alle Richtungen offene, weite Felder, die gemeinsam gestaltet werden können.

Wertschöpfend und sinnstiftend.

4 comments for “Karriere? Kannste knicken!

  1. 19. November 2022 um 9:11

    Ein sehr guter und wichtiger Denkanstoss, der vor allem in diesem Bereich wichtig ist und ein Umdenken erfordert.

    • 21. November 2022 um 23:18

      Besten Dank Herr De Micheli für Ihre Rückmeldung. Umdenken vordenken. Das will mein Blog zu Karriere hier fördern. Schön, wenn es Sie so erreicht.
      Viele Grüsse Armin Ziesemer

  2. Franziska Koerfer
    17. November 2022 um 8:17

    Das wäre wirklich wünschenswert, aber leider verharrt im traditionellen Alltag die Mehrheit im Alten.

    • 18. November 2022 um 13:16

      Hey Franziska, das ist wohl so. Erst wenn der Leidensdruck genug stark ist, kommt oft Bewegung in ein System. Das schafft Leid und verursacht Kosten, die früher abgefedert hätten werden können. Ich engagier mich dafür.

      Danke für deinen Input in die Diskussion.

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