Die Digitalisierung ist auch im HR in vollem Gange. Umso erstaunlicher ist es, wie stiefmütterlich im Recruiting damit umgegangen wird – trotz allgegenwärtigem Fachkräftemangel. Ich spreche hier nicht von AI, Bots, People Analytics oder ähnlich anspruchsvollen Themen – es geht um Basics.
Die Ära der modernen HR-Technologie (HR-Tech) geht auf die 1990er Jahre zurück, als Online-Jobbörsen und Systeme für das Bewerbermanagement Einzug hielten. Damals bestand ihr Hauptziel darin, die Personalabteilung bei ihrer Arbeit zu unterstützen und Unternehmen bei der Umstellung von Papier auf digitale Unterlagen zu helfen. Diese Plattformen waren alles andere als benutzerfreundlich, es fehlte die Anziehungskraft, die die Menschen dazu bringt, sie tatsächlich zu nutzen. Leider haben diese Dinosaurier vielerorts bis heute überlebt. Das Kernproblem: Sie wurden damals mit der Annahme konzipiert, dass es einen Überschuss an Talenten gibt.
Ob es das jemals gab, bezweifle ich. Wir sind uns aber alle einig, dass dies heute nicht der Fall ist. Man kann deshalb keine Strategie des Talentüberschusses anwenden, wenn es keinen Talentüberschuss gibt. Vielmehr gilt es deshalb Prozesse zu entwickeln und Technologien zu nutzen, welche die Besten anziehen, anstatt die Schwachen auszusondern.
Am Anfang steht der Perspektivenwechsel
Ein entscheidender Faktor zur Lösung klassischer Einstellungsprobleme besteht darin, die Perspektive zu ändern. Nicht das Talent bewirbt sich beim Unternehmen, sondern umgekehrt. Unternehmen müssen sich und den Job dem Talent verkaufen. Dieser Schwerpunkt auf dem Verkaufen umfasst die «richtigen» Zielpersonen auf sich aufmerksam zu machen, zu begeistern und während des gesamten Prozesses engagiert zu halten, sodass sie schliesslich die Stelle annehmen. Haben Sie erst einmal diesen Mindset verinnerlicht, stehen Ihnen zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, welche potenzielle Kandidaten anziehen und das (Bewerber-) Leben leichter machen.
Die Möglichkeiten sind fast endlos, weshalb ich mich deshalb hier auf drei Beispiele beschränke, welche technologie-unterstützt und mit überschaubarem Aufwand echten Mehrwert generieren:
1. Personalisierung
Wenn Sie einen 0815-Ansatz für die Gewinnung von Talenten verwenden, können Sie nicht erwarten, dass Sie Top-Performer, Innovatoren oder sonstige, stark gefragte Zielgruppen anziehen und einstellen können. Setzen Sie auf maximale Personalisierungsansätze, die im Marketing längst etabliert sind – denn Talente sind auch Consumer. Hierfür haben Sie die Technologie vielleicht schon im Haus.
Neben Active Sourcing mit personalisierten Nachrichten und Job-Landingpages, kann mit den richtigen Tools heute sogar der Inhalt der Stelle personalisiert werden, um Ihrer Zielgruppe ein «wow» auf die Lippen zu zaubern. Zur Personalisierung gehört nicht zuletzt auch, potenziellen Kandidaten bei jedem Touchpoint eine Kontaktmöglichkeit zu einem echten Menschen zu bieten. Und damit ist nicht eine E-Mail an personal@firma.ch gemeint.
2. Voice und Video
Die Welt des Internets und der mobilen Kommunikation wird heute von Videos, Bildern und Informationen dominiert. Dieser Wandel wurde durch die Popularität von YouTube, Podcasts, Alexa, Siri & Co., Webcasts, Videospiele und Social-Media-Videos gefördert. Sogar das textlastige Buch wird immer öfter als Hörbuchoptionen konsumiert. Im HR gibt es zahlreiche Anwendungsgebiete für dieses Medium, auch im Recruiting.
Da es sich bei der Personalbeschaffung um eine Form des Verkaufs handelt, ist Video prädestiniert dafür, Bewerber anzuziehen und zu überzeugen. Video-Stellenbeschreibungen, Begrüssungsvideos durch Fachverantwortliche oder Videos über einen «Tag im Leben» eines Mitarbeitenden geben den Bewerbern nicht nur einen Eindruck der Arbeit, sondern auch der Kultur.
3. Karrierewebseite als Herzstück der Candidate Experience
Die meisten Karriereseiten bieten kaum mehr Spannung als die Lektüre einer Versicherungspolice. Ausserdem haben schockierende 77 Prozent der KMU gemäss einer aktuellen Studie überhaupt keine Karriereseite.
Vordergründig ist das Ziel der Karrierewebsite Informationen anzubieten, die das Unternehmen zum Leben erwecken und die Arbeitserfahrung glaubwürdig und real transportieren. Es gilt einen guten Mix zu finden aus «Wow»-Merkmalen und Elementen, die sich auf die betrieblichen Aspekte konzentrieren, an denen potenzielle Mitarbeitende interessiert sein könnte.
Gesamtheitlich betrachtet geht es aber um viel mehr. Eine Karriereseite muss zunächst Reichweite generieren, damit überhaupt jemand darauf aufmerksam wird, zum Beispiel durch eine konsequente Ausrichtung auf Jobsuchmaschinen und Schnittstellen zu geeigneten «Verstärkern» wie Jobportale und soziale Netzwerke. Wenn dann aus einem Besucher ein Kandidat werden soll, muss die Bewerbung und alles was danach folgt so einfach sein, wie eine Buchbestellung bei Amazon. Ja, das ist technisch etwas anspruchsvoller, wird aber erwartet. Insbesondere von den Talenten, die am Markt gefragt sind.
Fazit
Ähnlich wie im Marketing, wo heute ohne Technologie gar nichts mehr laufen würde, ist der Vormarsch der Rekrutierungstechnologie unvermeidlich und unaufhaltsam. Fast alle Experten sind sich einig, dass die Technologie mit Sicherheit jeden Aspekt der Personalbeschaffung verändern wird. Dieser Wandel wird auch die erforderlichen Qualifikationen der Recruiter drastisch verändern. Unternehmen und ihre Rekrutierungsverantwortlichen sind deshalb gut beraten, sich hier fit zu machen und zu adaptieren, was im Marketing längst Realität ist.