Wer sich auf die Zukunft vorbereiten will, kann inhaltlich oder prozessual ansetzen. Inhaltlich ist zu klären, warum man sich als Unternehmen verändern will – die prozessuale Ebene betrifft die Voraussetzungen für den Wandel. Damit die Transformation gelingt, braucht es beide Ebenen. Sonst bleibt die Transformation inhalts- beziehungsweise zwecklos oder aber die Versprechungen des Neuen bleiben ewige Träumereien.
Ungesunde Versteifung auf das Wie
Unglücklicherweise versteift sich die Transformation zurzeit vielerorts auf das «Wie». Wie wild ruft man Changeprogramme ins Leben, bi-modale Strukturen sollen das Tempo der Veränderung erhöhen. Kein Unternehmen, das nicht am Mindset für die digitale Zukunft arbeitet. In der Veränderung thematisiert man vor allem die Veränderung. Transformation findet der Transformation wegen statt. Man digitalisiert, weil man eben digitalisieren muss.
Seit einigen Monaten mehren sich die Symptome einer vernachlässigten inhaltlichen Ebene. Man berichtet mir von verschärften Kulturkonflikten zwischen alter und neuer Welt – der gemeinsame Nenner fehlt. Junge Mitarbeitende sind frustriert, weil viel über Transformation gesprochen wird, ihre Ideen aber nicht umgesetzt werden oder gar nicht erst gefragt sind. Regelmässig in Veränderungsprojekte berufene Mitarbeitende sind workshopmüde, haben das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Das konsensorientierte Design Thinking verhindert mutige Entwürfe zusätzlich.
Orientierung am Digitalen
Um der Transformation einen Grund zu schenken, sind Entwürfe künftiger Lebenswelten nötig – des Erinnerns, Wohnens, Liebens, Erholens, Reisens. Sie sollen konkret machen, wie die Digitalisierung das Leben verbessert. Will man sich lösen von der Transformation der Transformation willen, wird die Auseinandersetzung mit philosophischen Grundsatzfragen unumgänglich. Was ist das gute Leben? Warum existiert die Menschheit? Wozu brauchen wir Fortschritt?
Konkretisierungshilfen findet man zum einen in Enzyklopädien neuer Technologien, zum Beispiel im Hype Cycle. In die Szenarien sind die Auswirkungen neuer Interfaces zu integrieren, also die neuen Kanäle der Interaktion und des Konsums. Intelligente Ringe, Kontaktlinsen, Brillen, Lautsprecher und Kopfhörer bedrängen das Smartphone. Zum anderen offerieren die Einhörner, als milliardenschwere Startups, Einblick in Zukünfte. Je mehr wir selbst das Fantasieren vernachlässigen, desto mehr sind wir den Visionen der Einhörner und ihrer mächtigen Förderer ausgesetzt.
Orientierung am Postdigitalen
Eine zweite Quelle von inhaltlichen Ankern entsteht durch das Postdigitale. Je länger die digitale Transformation anhält, desto mehr langweilt sie uns, desto selbstverständlicher werden deren Errungenschaften. Das führt zur Frage, welche Veränderungen uns neben und nach der Digitalisierung beschäftigen. Die von den Beratern und Medien getragene Managementmode der digitalen Transformation versteckt zwei ebenso bedeutende Makro-Trends: der Wandel der Demographie und des Klimas.
Bereits das Übermorgen wird eine «Gesellschaft der 100-Jährigen» sein. In dieser wird Abfall zum «Gold der Zukunft» – will der Planet kurz vor dem Kollaps, noch die Kurve kriegen. Weitere Trends einer postdigitalen Gesellschaft sind die Entdeckung der letzten Räume (der (Ant)Arktis, des Weltalls, des Virtuellen), die Sehnsucht nach Stille oder neue Sprachen (der Maschinen, Tiere und Pflanzen). Wir stehen am Anfang einer oralen Post-Text-Gesellschaft, in der die Kommunikation mit (bewegten) Bildern weiter an Bedeutung gewinnt.
Orientierung am Alternativ-Digitalen
Schliesslich könnte sich ein Unternehmen auch an den Gegenströmungen und -argumenten des Digitalen orientieren – um seine Produkte, Dienstleistungen, Mehrwerte und gesellschaftspolitische Positionierung zu überarbeiten. Wer das Alternativ-Digitale in den Vordergrund der Strategiearbeit rückt, stellt sich den Nebenwirkungen der Transformation. Die Kritik am Digitalen wird zur Chance, zur Innovationsquelle. Es gibt dann nicht nur eine digitale Zukunft, sondern viele – und wir alle sind aufgefordert, diese zu designen.
Wichtige Elemente des Feedbacks der Alternativen sind der Datenschutz, die ökologische Belastung, die Machtkonzentration, die Eliminierung des Zufalls, diskriminierende Algorithmen, die Verdummung der Menschheit oder Auswirkungen der Transformation auf unsere Gesundheit. Alternativ-Digital zu denken, bedeutet neue Varianten eines Hotels, einer Bank, eines Smartphones zu entdecken. Im Diskurs versteckt ist die Suche nach den Knappheiten, die für das gute Leben tatsächlich relevant sind.
Digital, Postdigital, Alternativ-Digital – und das HR?
Nicht die Milestones einer Transformation sind entscheidend, sondern deren Zweck. Verstehen die Mitarbeitenden nicht, warum man sich als Unternehmen verändert, sehen sie auch für sich persönlich keinen Grund zum Wandel. Aus der Optik des Digitalen, Post- und Anti-Digitalen finden sich jeweils andere Gründe, um Wandel zu legitimieren. Kann HR auf dieser inhaltlichen Ebene nicht mitdiskutieren, wird es keine Mehrwerte erzielen, kein strategischer Partner sein.
Diese Strategiearbeit aus der Teppichetage zu holen und das Ringen rund um die Zielkonflikte, Ertragsquellen, und Risiken der Zukunft in die Transformationsprogramme zu übersetzen, ist eine erste Aufgabe für HR. Zweitens zeigen die Vernetzungstechnologien, Einhörner, die alternativen und postdigitalen Trends Positionen auf, um sich im Arbeitsmarkt zu positionieren. Gerade der Generation Z reicht der Lohn nicht mehr als Gegenleistung für ihre Arbeit. Sie wollen Teil einer grösseren Idee sein und sich an der Transformation der Gesellschaft beteiligen.
Die gewählten Orientierungspunkte im Kaleidoskop des Digitalen, Post- und Anti-Digitalen zeigen auf, welche Fähigkeiten für die Zukunft gefragt sind. HR ist drittens beauftragt, der Organisation die entsprechenden Kompetenzen und Netzwerke zuzuführen. Das kann durch Rekrutierung, Kooperation und Entwicklung passieren. Versteht man Unternehmensentwicklung als induktiven Prozess, wird HR zum Strategie-Macher: Die Kreativität der Mitarbeitenden gibt vor, was in zehn Jahren sein wird. Schliesslich muss HR selbst klären, wo man sich für die künftige Wertschöpfung warum auf das digitale, alternativ-digitale und post-digitale bezieht.
Vielen Dank für Eure Kommentare hier und auf Linked In. Die aufgeworfenen Fragen regen zum Nachdenken an. Danke auch für die Literaturhinweise. Hier ein paar spontane Gedanken zu Euren Kommentaren.
Für mich ist zuerst gar nicht die Frage, ob HR das kann oder nicht. Denn HR muss es können. Ohne die strategischen Diskussionen zu prägen (nicht nur jene innerhalb von HR, sondern alle), verliert der Bereich seine Legitimation. Nicht nur ist für mich jede Unternehmensstrategie mindestens zum Teil eine HR-Strategie. Zum anderen müssen HR-Aktivitäten zwingend einen Bezug zur Strategie haben, am offensichtlichsten im Recruiting. Ob HR heute in einem Unternehmen schon so funktioniert, hängt gemäss meiner Erfahrung stark von der Person ab – ihrer Ausbildung, ihrer Lust sich zu vernetzen, ihrem Selbstvertrauen.
Die zweite Frage in Bezug auf die Verzahnung von Prozess und Inhalt ist tricky. Es mag sein, dass die beiden Elemente nicht vollständig parallel stattfinden sondern seriell. Dennoch plädiere ich für Gleichzeitigkeit oder wenn dann ein schnelles, stetiges Wiederholen der beiden Elemente. Der gegenwärtige Change ist vielerorts deshalb absurd, weil unklar ist, warum er nötig ist, auf war er sich bezieht, welche Technologien relevant sind, welche Vorstellungen vom guten Leben man hat, für welches Szenarien welche Veränderungen nötig sind.
Eine Trennung von Inhalt und Prozess geht tendenziell mit einer personellen Trennung einher: Die einen sagen wohin es gehen soll, die anderen versuchen die Organisation entsprechend umzubauen. Das ist „deduktives“ Management. Die Führungskraft weiss genau, wohin es geht und welche „Milestones“ dorthin führen. Aber in einem hochvernetzten Kontext ist diese Meiner Meinung nach nicht mehr möglich. Stattdessen glaube ich an induktives Management. Bei diesem hat niemand mehr eine Ahnung was in 5 oder 10 Jahren genau sein wird.
Eine offene Herangehensweise aber wiederum verlangt inhaltlich und prozessual ständig neu zu justieren, eben „iterativ“ auf beiden Ebenen vorzugehen.
Für mich scheitern viele Transformationprozesse, wie sie schreiben, daran, dass man sich immer nur mit einem Aspekt beschäftigt, sei es nur der Prozess ohne Inhalt, sei es das Team in einem Workshop ohne dem Einzelnen, dem dann frustrierten Mitarbeiter.
Karl E. Weik schlägt daher die „Entscheidungsspaltung“ vor, was vereinfacht bedeutet, dass man sich beider Gegensatzpaaren immer getrennt voneinander, hintereinander intensiv annimmt, aber nie gleichzeitig miteinander, denn dann kommt ein „fauler“ Kompromiss heraus. So kann man die „Handlungskompetenz“, wenn man sie als „Snpassungsfähigkeit“ definiert, nachhaltig steigern.
Wie dies zB für HR ausschauen könnte – und damit auch verständlicher wird, was ich meine: https://www.temt.at/die_teamberatung_ohne_kompromiss/
Danke für den Blog Joel Luc
Nimmst du wahr, dass HR Leiter die Denk-, und Strategiefreiheit haben um diese Anregungen von Dir umzusetzen?
Respektive was gilt es konkret zu tun, damit Firmen und Management über die entsprechende ‚Handlungskompetenz‘ verfügen?