Die Schweiz ist (k)ein Homeoffice-Land

Future WorkDie Bewältigung der Zeit nach einer Krise ist meist anspruchsvoller als die Krise selbst. Gilt in Ausnahmezuständen das Prinzip «Best Effort» – jeder gibt sein Bestes und das muss genügen – so weicht dieser gesunde Pragmatismus mit der Rückkehr in eine gewisse Normalität einem hohen Erwartungsdruck und einer Pluralität von Zukunftshoffnungen. Es ist daher Zeit kurz innezuhalten, bevor wir das nächste Kapitel der Zusammenarbeit schreiben.

In den letzten Monaten wurden zahlreiche lokale und internationale Studien publiziert zur Frage, welche Zukunft der Arbeit sich die Arbeitnehmenden wünschen. Im Kern ging es bei diesen Erhebungen meist nur um die Dichotomie «Büro versus Homeoffice»; darin liegt bereits ein erster Kritikpunkt. Innovative Modelle wie Coworking als dritte Orte fehlen bei dieser Betrachtung komplett, obwohl sie das Potential hätten, vermeintlich gegensätzliche Anliegen wie Zugehörigkeit, Vernetzung, bewusste Abgrenzung, Rückzug, Innovationstärke und eine nachhaltige Mobilität beziehungsweise Infrastrukturnutzung gleichzeitig zu fördern. Einmal mehr gilt das Prinzip, dass individuelle schriftliche Befragungen wenig Sinn machen, wenn die Zukunft nicht einfach die Verlängerung der Vergangenheit darstellt, sondern es darum geht, auch neuartige Optionen auszuloten.

Doch meine grösste Skepsis in Bezug auf den Nutzen dieser Studien hat eine andere Ursache. Die Frage, wo jemand in Zukunft gerne arbeiten würde, ist weder spannend noch relevant. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich mitten in einer tiefgreifenden Transformation, die durchaus das Potential bietet, dass wir die Arbeitswelt nachhaltig verbessern. Die Frage nach dem individuellen Nutzen darf aber niemals vor der Betrachtung des grossen Ganzen und insbesondere der wünschenswertesten Zukunft für uns alle – konkret: unsere Gesellschaft und der Akteure, die ihren Beitrag zu einer prosperierenden und resilienten Wirtschaft leisten – stehen.

Quelle: Dingel & Neuman, World Bank Home Based Work (HBW) index, World Bank’s World Development Indicators database, Seite 17.

Das World Economic Forum hat sich im letzten Future of Jobs Report (Stand Oktober 2020) mit der Frage auseinandergesetzt, was hybrid und remote Work für unsere Volkswirtschaft bedeutet. Schaut man sich die obenstehende Grafik an, so zeigt die y-Achse, dass die Schweiz zu den am meisten entwickelten Volkswirtschaften zählt, was den Anteil der Erwerbstätigen betrifft, die einer wissensintensiven Tätigkeit nachgehen (was nicht heisst, dass sie zu 100 Prozent ortsunabhängig arbeiten können). Diese Aussage kann zusätzlich durch die Tatsache untermauert werden, dass die Schweiz in Bezug auf die Investitionen in den digitalen Arbeitsplatz pro Kopf weltweit zu den führenden Ländern zählt. Der Schluss, dass die Schweiz damit als Homeoffice-Land prädestiniert ist, ist jedoch trügerisch. Betrachtet man auch die x-Achse, so wird deutlich, dass die Schweiz gleichzeitig zu den führenden Nationen zählt in Bezug auf das Bruttoinlandprodukt pro Kopf (GDP per capita). Damit verbunden nimmt die Schweiz auch einen Spitzenplatz ein in Bezug auf die durchschnittlichen Lohnkosten.

Kommen wir zurück zu den Studien, die sich detailliert mit dem präferierten Arbeitsort und der zeitlichen Aufteilung auseinandersetzen. Lagen die Erwartungen vor der Pandemie noch bei einem Homeoffice-Anteil von 20 Prozent, so sind sie basierend auf den Erfahrungen der letzten Monate auf rund 40-50 Prozent* angestiegen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch zahlreiche interne Umfragen, die in Organisationen unterschiedlicher Grössen und Branchen durchgeführt wurden. Da ich diese Fragestellung, wie bereits geschildert, nicht zielführend finde, verzichte ich auf eine Kommentierung dieses Wertes. Was ich aber zur Diskussion stellen möchte, ist die Tatsache, dass sich in fast allen Erhebungen einige Befragte einen Homeoffice-Anteil von 5 Tagen pro Woche wünschen. Man ist verlockt zu denken: «Wäre in diesem Fall nicht die Selbständigkeit ein ehrlicherer Weg zu maximaler Autonomie als ein Anstellungsverhältnis, das eine minimale Teilnahme am Organisationsleben bedingt?». Die gewichtigere Begründung, warum die Vision «so viel Homeoffice wie möglich» für den Denk- und Werkplatz Schweiz enorm gefährlich ist, gibt uns aber die WEF-Grafik. Die Schweiz hat sich über Jahrzehnte hinweg erfolgreich zu einem Innovationsstandort entwickelt, in welchem hohe Löhne für innovative Tätigkeiten und das Lösen komplexer Probleme bezahlt werden. Beides bedingt eine gesunde Vernetzung zwischen internen und externen Anspruchsgruppe und damit verbunden auch gewisse physische Interaktionsformen innerhalb der Organisation sowie im Ökosystem. Ein grosser Anteil der Tätigkeiten, die komplett ortsunabhängig ausgeführt werden können, werden mittel- bis langfristig in Länder mit tieferen Lohnkosten verlagert.

Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es schaffen, dem Bedürfnis nach mehr Autonomie und Rückzugsmöglichkeiten der Arbeitnehmenden Rechnung zu tragen, ohne dass wir diesem Ziel die Gemeinschaft, resiliente Beziehungen und letzten Endes unsere Innovationsstärke opfern müssen. Damit uns das gelingt, braucht es aber die richtigen Fragen (nicht «wo möchtest du arbeiten», sondern «was wollen wir gemeinsam erreichen und was ist das beste Format dafür»?») und die Bereitschaft aller Akteure, Eigenverantwortung wahrzunehmen und die eigenen Interessen mit denen des Kollektivs in Einklang zu bringen.

* Ich drücke diesen Wert bewusst in Prozenten aus. Die Angabe von Tagen macht absolut keinen Sinn, da hybrid zusammenarbeiten bedeutet, dass Arbeitsformen und -orte während des Tages zielführend gewählt und unnötige Transfers vermieden werden.

1 comments for “Die Schweiz ist (k)ein Homeoffice-Land

  1. Matthias Graf
    6. Mai 2022 um 5:59

    Einmal mehr: Vielen Dank Barbara für deine treffende Analyse und wichtigen Aussagen bezüglich der Selbständigkeit der Menschen als Mitarbeiter/innen und der damit verbundenen Themen der drei Arbeitsorte.

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