Plädoyer für Deep Work Days

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Future WorkNach Monaten des Lernens und Ausprobierens ist es jetzt an der Zeit, Arbeit und Zusammenarbeit bewusst zu gestalten. Tun wir das nicht, verspielen wir alles, was wir gerade erst gewonnen haben.

Vor zwei Wochen verbrachte ich einen physischen Unterrichtstag mit einer Klasse, die ich schon im Februar virtuell getroffen hatte. In der Vorbereitung realisierte ich, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte – weder an die Teilnehmenden noch an die Diskussionen. Einfach weg. Als ob der Austausch nie stattgefunden hätte.

Dass virtuelle Begegnungen flüchtig sind, ist mir schon lange aufgefallen. Nicht umsonst liegen neben meinem Laptop auch Tablet und Stift, mit denen ich die Gesprächsinhalte und das besprochene Vorgehen jeweils grob festhalte. So kann ich beim nächsten Austausch nahtlos an den letzten anknüpfen, als hätten in der Zwischenzeit nicht gefühlte hundert fast identische Begegnungen im digitalen Raum stattgefunden.

Es liegt auf der Hand, dass Erinnerungen nicht gleich gut haften bleiben, wenn wir uns nicht mit allen Sinnen erleben und wahrnehmen. Und weil bei virtuellen Begegnungen oft die «Zwischenräume» fehlen – das gemeinsame Mittagessen im Anschluss, der Spaziergang zum Bahnhof, der Raumwechsel – werden die Erlebnisse weder weiterverarbeitet, noch können sie wirklich tief einsinken.

Von der anfänglichen Euphorie zu Flüchtigkeit und Rastlosigkeit

Zur gleichen Zeit, als mich diese Flüchtigkeit anfing zu beschäftigen, ist mir ein anderes Phänomen aufgefallen. Viele meiner Kontakte, von denen die meisten in Grossfirmen arbeiten, waren vor rund einem Jahr recht euphorisch in Bezug auf die radikale Umstellung von physischen auf virtuelle Formen der Zusammenarbeit. Papierberge waren geschmolzen, Agilität wurde gelebt, statt gepredigt, Sitzungen dauerten weniger lang und das Wegfallen der Reisezeit führte zu grossen Energie- und Effizienzgewinnen. Die freigewordene Zeit nutzte man für die Regeneration. Viele fühlten sich weniger fremdgesteuert und lebendiger.

Doch rund ein Jahr später hat der Wind gedreht und der anfängliche Technologieoptimismus hat sich in Luft aufgelöst. Praktisch alle kämpfen sich jeden Tag ohne Unterbruch von einem virtuellen Termin zum nächsten; oft fehlt dazwischen sogar die Zeit für den Weg zur Kaffeemaschine oder Toilette, von der mangelnden Zeit für die Nachbereitung gar nicht erst zu sprechen. Was ist passiert? Das Bild, das im Rahmen einer aktuellen Studie von Microsoft Research zum Thema «Hybride Arbeit» vor kurzem publiziert wurde, zeigt eindrücklich auf, was momentan unseren Alltag prägt. Anstatt dass uns der digitale Arbeitsplatz erfolgreicher und schlagkräftiger gemacht hat, sind wir relativ unvorbereitet und daher ohne Deckung in den Rebound-Effekt getappt.

Wir verspielen alles, was wir gerade erst gewonnen haben

Weil wir dank den neuen Instrumenten noch einfacher und schlanker zusammenarbeiten können, versuchen wir, noch mehr möglich zu machen. Noch mehr Termine in einen Tag zu packen. Noch mehr Projekte anzunehmen. Noch mehr Dinge schnell zu erledigen – meist parallel zu anderen Tätigkeiten, obwohl für die erfolgreiche Bewältigung unsere ungeteilte Aufmerksamkeit nötig wäre. Da viele Organisationen den digitalen Arbeitsplatz quasi über Nacht einführten, blieb wenig Zeit, um den sinnvollen Einsatz der neuen Instrumente zu reflektieren, neue Kompetenzen auf der Ebene Organisation und Individuum aufzubauen und uns über die neuen Spielregeln der Zusammenarbeit Gedanken zu machen.

Wenn wir verhindern möchten, dass wir in Zukunft zu Sklaven unserer Smartphones, Netzwerken und Daten werden, müssen wir uns bewusst mit der Frage auseinandersetzen, wie es uns gelingt, trotz Technologie-Euphorie bewusst Räume zum Denken, Sinnieren und Kreieren zu schaffen. Denn genau diese Dinge machen uns als Menschen aus: dass wir in der Lage sind, Neues zu entwickeln, Bestehendes kritisch zu hinterfragen und im starken Verbund einer Gemeinschaft Dinge zu schaffen, zu denen wir allein nie fähig wären.

Der gesunde Geist im Fokus

Die Erkenntnis, dass wir im digitalen Zeitalter die Fähigkeit verloren haben, uns fokussiert und länger als die paar Minuten, die zwischen zwei Terminen übrig bleiben, nur einer Sache intensiv zu widmen, ist nicht neu. So hat beispielsweise Cal Newport hat mit seinem Buch «Deep Work» 2016 wichtige Fragen und Erkenntnisse zu konzentrierter Arbeit adressiert. In meinen Augen hat sich jedoch der Kontext in der Zwischenzeit massiv verändert. Eine übervolle Agenda war bislang der Beweis dafür, dass wir gefragt sind. Sich nicht zu verzetteln und dafür zu sorgen, dass man zwischendurch zur Ruhe kommt, war Sache des Individuums. Wer es nicht schaffte, mit der Informationsflut umzugehen, war nicht ganz auf der Höhe. Und wer gar in eine Erschöpfungsdepression oder ein Burnout lief, hatte sein Eintrittsticket ins digitale Zeitalter definitiv verspielt.

In unserem Denken gab es zwei Lager: die digitalen Superstars, die mit den neuen Anforderungen spielend umgehen können und die anderen, die das nicht schaffen. Für Letztere haben wir das Auffangnetz «Betriebliches Gesundheitsmanagement» eingerichtet, damit der Absturz nicht ganz so tief ist. Was aber, wenn auch die vermeintlich Starken und Gesunden, auf die wir unsere ganze Hoffnung setzen, gar nicht in der Lage sind, nur einen klaren Gedanken zu fassen und gar nicht den Raum haben, ihre Erfahrungen, Leidenschaft und Kompetenzen zum Wohl der Organisationen und Gesellschaft einzubringen?

Ausbrechen und abtauchen

Wir erleben aktuell die wohl fundamentalste Veränderung der Arbeitswelt in unserer gesamten Berufslaufbahn. Gerade weil so viel in Bewegung ist, wie noch nie, haben wir es jetzt in der Hand, wieder die Verantwortung für uns und andere zu übernehmen und uns bewusster Gedanken zu machen, wie wir das wertvollste, dass wir besitzen, einsetzen: unseren Geist, unseren Verstand, unsere Neugierde, unsere Leidenschaft, unsere Kreativität und die Fähigkeit, mit anderen in Beziehung zu treten.

Aller Anfang ist einfach. Lasst uns ab sofort einen Tag im Monat zum «Deep Work Day» erklären. Ich entscheide jetzt mal für die ganze Schweiz, dass dies immer der erste Donnerstag im Monat ist (mit dem Konzept Nationaler XYZ-Days bin ich ja relativ gut vertraut 😉). An diesem Tag widmen wir uns in der Tiefe einem Thema, das unsere volle Aufmerksamkeit braucht und an welchem wir länger dranbleiben müssen.

Damit das Ein- und Abtauchen auch gelingt, müssen wir uns bewusst zurückziehen. Doch wohin? Haben wir nicht gerade das Zuhause als letzten Rückzugsort verloren? Mag sein, aber zeitgleich haben wir neue dritte Orte gewonnen, die prädestiniert sind für eine kleine Retraite mit sich selbst: Coworking-Spaces. Ein Ort, wo wir weder Mitarbeiterin noch Arbeitskollege, Chefin oder Vater sind.

Ein Tag pro Monat reicht doch nicht, viel zu simpel etc. höre ich die Kritiker*innenstimmen. Das stimmt, aber wenn wir das mal im Kleinen üben, können wir den neuen Muskel stetig stärken und neue Rituale entwickeln. Und damit auch die Budget-Frage nicht als Ausrede vorgebracht werden kann: Es genügt ja nur schon, wenn man sich am Morgen eine Stunde Zuhause oder im Strassencafé Zeit nimmt, um das Allerwichtigste anzugehen, bevor man sich in den Zug setzt und den Tag im Büro beginnt. Dass wir dabei auch die Pendlerspitzen brechen können, ist ein willkommener Nebeneffekt.

Bewusste Neugestaltung der Arbeit

Der «Deep Work Day» ist ein toller Anfang. Doch der allein reicht nicht. Wir müssen auch aktiv daran arbeiten, die Menge an Daten, Mails und Unterbrechungen in den Griff zu bekommen. Dies gelingt uns nur, wenn wir uns bewusst Gedanken machen, wie wir eine Aufgabe am besten lösen und zeitglich an unseren Prozessen und Strukturen arbeiten.

Eines ist klar, wenn wir jetzt nichts tun, landen wir ungebremst im Rebound-Effekt. Ich wünsche mir deshalb, dass diesem Aufruf für eine bewusste Neugestaltung der Arbeit nicht nur Individuen, sondern vor allem auch Unternehmen folgen, die gewillt sind, der Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden Sorge zu tragen. Wenn sie dies tun, investieren sie damit nicht nur in gesunde Mitarbeitende, sondern gleichzeitig – auf die wirksamste Weise – in ihre eigene Schaffenskraft und Erneuerungsfähigkeit. Sie befreien ihre Talente vom Roboter-Dasein und geben ihnen den Raum, das zu tun, wofür sie brennen und wozu wir als Menschen gemacht sind.

Wer ist dabei am ersten «Deep Work Day» am 1. Juli 2021?

4 comments for “Plädoyer für Deep Work Days

  1. Edi Fässler
    21. Juni 2021 um 7:55

    Toller Artikel, der die wunden Punkte sehr gut beleuchtet. Ich hoffe, es gelingt uns, den nächsten Übergang zurück zur mehr physischen Kontakten erfolgreich zu gestalten.
    Und die Idee mit dem DeepWork Day finde ich ebenfalls toll.
    Danke für Ihre wertvollen Gedanken.

  2. Roxana
    17. Juni 2021 um 15:02

    Tolle Idee!

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