Assessment – und ich sage dir wer du bist

«Jakob Dreher, der dritte Kandidat, ist für mich nach den Interviews der Top-Favorit.» Felix Spycher, der Abteilungsleiter, lehnt sich zufrieden zurück. Details werden abgestimmt und die HR-Beraterin leitet die nächsten Massnahmen ein.

Wenig später entscheidet die Geschäftsführung, dass neu ab Stufe Gruppenleiter ausnahmslos ein Assessement durchgeführt wird. Jakob Dreher wird dazu aufgeboten und einen Tag lang auf Herz und Nieren geprüft.

Kostenpunkt inklusive Nachgespräch: 8900 Franken. Fazit: Die Aussagen der Assessoren über seine Leistungen an diesem Tag sind durchzogen. Das Urteil, wenn auch diplomatisch zweideutig formuliert: Nicht geeignet!

Felix Spycher interveniert, setzt sich für seine bevorzugte Wahl ein und bringt Argumente ein:

  • Der Kandidat passt ausgezeichnet ins Team.
  • Seine Persönlichkeit ist ergänzend und bereichernd.
  • Der fehlende Hochschulabschluss ist kein Killerkriterium.
  • Es gibt auch im Lebenslauf keinen Hinweis auf die erwähnte «mangelnde Belastbarkeit».

Das war vor 6 Jahren. Heute führt Felix Spycher ein Unternehmen in der Solarbranche.

Einfachere «Home-made»-Variante ohne Fehlbesetzungen

Assessments hat er, aufgrund der Erfahrung von damals mit Jakob Dreher, abgeschafft. Stattdessen hat er das Budget für die Ausbildung aufgestockt. «Wer zur Einzigartigkeit unserer Kultur, den Werten und den individuellen Teams passt, wissen die Menschen, die hier arbeiten, am besten», führt er aus, als er mich bittet, seine Rekrutierungsprozesse als Moderator zu begleiten.

Die neue Form der Eignungsabklärung umfasst neu drei Aufgaben:

  • Erstens: Eine persönliche Präsentation
  • Zweitens: Ein spezifisch definiertes arbeitsbezogenes Fallbeispiel
  • Drittens: Ein «Roundtable»-Gespräch in ungezwungenem Rahmen

Aufwand für die «Home-made»-Aktion:

  • Drei Stunden mit neun motivierten und ausgebildeten Mitarbeitenden, hierarchieübergreifend aus jedem Bereich.
  • Eine Stunde moderierter Austausch zur Entscheidungsbildung mit allen Anwesenden und HR.

Die Fehlerquote liegt seit Stellenantritt von Felix Spycher bei null.

Nur weil es die Anderen tun, muss es nicht richtig sein

«Wenn man Mut hat, eigene Entscheidungen zu fällen, den Menschen gegenüber wertschätzend entgegentritt, seiner inneren Stimme vertraut und sich von Diplomen nicht beirren lässt, ist es ganz einfach.» Dies erklärt er dem neuen HR-Leiter, als dieser die Idee äussert, die ursprüngliche Form der Assessments wieder einzuführen.

«Wenn sich neun Menschen irren und wir in den drei Monaten Probezeit nicht in der Lage sind, die Besetzung einer Position schlüssig zu beurteilen, dann haben wir ein ganz anderes Problem», erläuterte Spycher sein Konzept. «Und eines habe ich während meiner Lehrzeit, damals bei Siemens, selber erlebt: Das Erbringen von Höchstleistungen ist nicht nur vom eigenen Potenzial abhängig, sondern auch davon, wie weit es Vorgesetzten gelingt, dieses zu fördern.»

Die Arbeit mit Felix Spycher ist bereichernd. Seinem Grundsatz – «nur weil es die Anderen tun, muss es nicht richtig sein» – bleibt er treu.

Ach so: Der Leiter Energie ist übrigens seit drei Jahren im Unternehmen und heisst Jakob Dreher.

11 comments for “Assessment – und ich sage dir wer du bist

  1. 26. Oktober 2017 um 16:59

    Herrn Spychers Strategien für die Auswahl vom Personal sind sehr interessant und sie sind sicher auch ein valables Auswahlverfahren. Strukturiert durchgeführte Assessment Center haben jedoch die grösste Aussagekraft! Die 97 % Erfolgsquote, die die Assessments mit sich bringen, erweisen sich als relativ hilfreicher Wegweiser, wenn zum Beispiel ein Spital eine neue Topkaderstelle zu vergeben hat. Dies ist insbesondere empfehlenswert wenn mit der Position auch noch eine hohe Budgetverantwortung verbunden ist, da kann man kein Risiko eingehen. Als eine so grosse Institution möchte man sich im Endeffekt nunmal nicht mit subjektiven Fehlberurteilungen herumschlagen – vor allem weil bei einer hohen Kaderposition nicht nur das Spital sondern auch alle Menschen, die die Dienstleistungen des Spitals wahrnehmen, profitieren wollen. Ich bin völlig der Meinung, dass Assessments zu teuer sind, um sie z.B für die Position des Gruppenleiters durchzuführen. Trotzdem empfiehlt es sich für Topkaderpositionen die Kosten in Kauf zu nehmen, damit eine möglichst aussagekräftige und objektivitätsnahe Auswertung des Kandidaten vorliegt, um die Stelle optimal zu besetzten.

  2. 10. Oktober 2017 um 6:48

    Vielen Dank für die Anregungen. Allerdings: Wer Assessments ebenso „dogmatisch“ ablehnt wie sie „dogmatisch“ als das alleingültige Rezept verwendet, wird aus meiner Sicht falsch liegen. Natürlich gibt es viele gute sogenannte Bauchgefühl-Entscheide. Was aber nicht heisst, dass damit per se die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Wenn für ein Gruppenleiter-AC ein derart hoher Betrag bezahlt wird, wie im Blog erwähnt, finde ich das schamlos überbezahlt. Auf dieser Stufe rechnen wir mit einem bedeutend geringeren Betrag. Ob ein Assessment das bringt, was es bringen soll, nämlich eine professionell durchgeführte, unabhängige Zweitmeinung auf spezifische und massgeschneiderte Kompetenzen bezogen, hängt unter anderem von der Qualität der Durchführung, der Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Provider sowie den Erfahrungen der Assessor/innen ab. Swissassessment ist konstant bestrebt, die Qualität ihrer Mitglieder hoch zu halten und zu steigern. Immerhin verfügen nun rund 20 Firmen über das SQS Zertifizierungs-Logo. Hilfreich wäre in einem Blog zu unterscheiden zwischen Top professionell arbeitenden Firmen und „Scharlatanen“. Diese Differenzierung fehlt mir im Beitrag. Mit besten Grüssen, Andreas Benoit

    • Marthaler
      12. Oktober 2017 um 13:50

      Lieber Herr Benoit

      Ich teile Ihre Meinung. Meine Blogs haben weder den Anspruch zu be- noch zu ver-urteilen. Die Geschichten möchten einfach sensibilisieren, dies immer mit einem versteckten Schalk. Wenn es damit gelingt, da und dort mit dem einen oder anderen Beitrag das eine oder andere zu hinterfragen und dies hinsichtlich der Professionalität zu optimieren, dann wäre das doch ganz ok :-)
      Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen.
      Liebe Grüsse Markus Marthaler

  3. Markus Findeis
    6. Oktober 2017 um 9:53

    Als Personaler mit 20 Jahren Erfahrung halte ich grundsätzlich nichts von Assessments. Zum Teil empfinde ich diese sogar als erniedrigend. Leider neigen heute viele Linienvorgesetzten dazu, keine Entscheidungen zu treffen und/oder sich diese durch Assessments abnehmen zu lassen. Es gibt zwar einige, wirklich gute elektronische Assessmenttools, die jedoch nur dazu dienen sollten, den vom Kandidaten erhaltenen Eindruck zu bestätigen. Dabei gilt es immer zu beachten, die Würde es des Menschen und Bewerbers nicht zu verletzen.

    • Marthaler Markus
      6. Oktober 2017 um 11:33

      Lieber Herr Findeis,

      Ich habe mir erlaubt, in diesem Blog die Diplomatie walten zu lassen, während Sie es auf den Punkt gebracht haben :-) Lieben Dank dafür.

      Markus Marthaler

  4. 6. Oktober 2017 um 7:40

    Niemals nimmt ein Assessment dem Management eine Entscheidung ab. Diese gehört in die Verantwortung der Führungskräfte des Unternehmens und darf unter keinen Umständen an Aussenstehende delegiert werden. Wer das Assessment so einsetzt, nimmt schlicht und ergreifend seine Aufgabe als Führungsperson nicht wahr.
    Was das Assessment hingegen leistet, ist die Beantwortung offener Fragen zur Persönlichkeit / zum Verhalten von Kandidaten in Bezug auf die Eignung für eine spezifische Funktion. Das verlangt von den Auftraggebern, dass sie sich im klaren sind, welche Fragen in der Abschlussphase eines Auswahlverfahrens noch offen sind: Präzise Fragen, punktgenaue Antworten.
    Und im Gegensatz zum berühmten «Bauchgefühl» und zur vielgerühmten Menschenkenntnis, genügen die Resultate eines Assessments (sofern sie sich an vorgeschriebene Qualitätskriterien halten) strengen, wissenschaftlichen Gütekriterien – und liefern so also auch präzise, gültige und verlässliche Antworten und Prognosen.

    Graziosa M. Alge

    • Marthaler Markus
      6. Oktober 2017 um 11:36

      Liebe Frau Alge

      Danke auch Ihnen für den Kommentar. Ich denke wenn Ihre einleitenden Sätze tatsächlich gelebt würden, wäre auch der Stellenwert des Assessments da wo es hingehört, nämlich ein weiteres „Hilfsmittel“ im Prozess, nicht mehr und nicht weniger.
      Liebe Grüsse
      Markus Marthaler

  5. 5. Oktober 2017 um 15:48

    toller menschenorientierter Ansatz von Felix Spycher. Die aufwändig inszenierten Assessments sind trotz Standards und geschulten Beobachtern zu subjektiv interpretiert und selten an den zukünftigen Aufgaben orientiert; zusätzlich überblenden die extrovertierten Bewerber und Bewerberinnen die Introvertierten.
    Ich habe sehr gute Erfahrungen mit online-Tools gemacht als Ergänzung zu den Interviews und Dossiers. Diese Tools sind bedeutend günstiger, hoch valide, unabhängig von subjektiven Bewertungen, zeitsparend. Die Tools, die ich einsetze, zeigen mir die Werte und Motivation der Person und wie gut sie dem Kompetenzprofil für die vakante Stelle und Aufgaben entspricht.
    viele Grüsse
    Ruth Blunier, apropos büro GmbH, Brügg BE

    • Marthaler Markus
      6. Oktober 2017 um 11:40

      Liebe Frau Blunier
      Danke Ihnen für Ihre Zeilen. So wird der menschliche Aspekt mit für Sie sinnvollen Tools ergänzt und die Praxis wird Sie in Ihrem Erfolg unterstützten. Ein Weg der Mitte, beides zu beachten, Mensch und „Technik“ und wie Frau Alge weiter oben schreibt, kein ausweichendes Instrument um die Entscheidung zu delegieren…
      Liebe Grüsse
      Markus Marthaler

  6. 5. Oktober 2017 um 11:32

    Um es mal etwas vereinfacht zu sagen: Jedes Auswahlverfdahren ist miserabel, wenn es nicht valide die Anforderungen an die Eignung der Person erfasst. Eignung wiederum besteht aus fachlichen, menschlichen und methodischen Qualifikationen einer Person. Das sind aber nur die notwendigen Vorraussetzungen, um reüssieren zu können. Hinreichend sind Qualifikationen erst, wenn sie adäquat zur Geltung gebracht werden können. Dass der Joberfolg dann auch noch von anderen Dingen wie etwa Produkt, Image, Vertrieb des Unternehmens etc. abhängt, zeigt, dass eine gute Eignungsdiagnostik nur einen Teil davon ausmacht.

    Viele Grüße aus Heiligenhaus
    Walter Braun

    • Marthaler Markus
      6. Oktober 2017 um 10:28

      Lieber Herr Braun

      Ich danke Ihnen für die professionelle Ausführung und sachkundigen Ergänzungen. Mögen Sie in praktischen Alltag in diesem Sinne auf fruchtbaren Boden fallen.

      Liebe Grüsse
      Markus Marthaler

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