Wir optimieren uns kaputt

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KarriereDer Job-Stress-Index 2015 lieferte Kennzahlen zum Stress bei Erwerbstätigen in der Schweiz. Jeder fünfte Erwerbstätige hat mehr Belastung als Ressourcen am Arbeitsplatz. Dabei optimieren wir doch laufend. Da geht was absolut nicht auf. Aber HR optimiert beflissen mit.

«Brave New Work» macht krank, das beweisen die Ergebnisse des Job-Stress-Index 2015. Gut ein Fünftel der Erwerbstätigen ist erschöpft. Zunehmende Burn-out Diagnosen  zeigen auf, woran unsere Arbeitswelt krankt: Burn-out ist eine Reaktion auf permanente Selbstoptimierung. Im Leitbild wird formuliert: «Das höchste Gut des Unternehmens sind die Mitarbeitenden!» Es geht aber letztlich meist darum, die Persönlichkeitsentwicklung so zu steuern, dass ein Mitarbeiter mehr Leistung – und damit mehr Gewinn bringt. Die Folge davon ist das gesellschaftliche Phänomen des erschöpften Selbst.

Die Resultate der Erhebung 2015 zeigen:

  1. Gut jeder fünfte Erwerbstätige (22,5 %) hat Stress, das heisst, mehr Belastungen als Ressourcen am Arbeitsplatz.
  2. Gut jeder fünfte Erwerbstätige (22,6 %) ist erschöpft.
  3. Die Erschöpfungsrate wird massgeblich durch Verhältnisse bei der Arbeit beeinflusst.
  4. Stress kostet die Arbeitgeber fünf Milliarden Franken pro Jahr.
  5. Langfristige Belastungen am Arbeitsplatz haben negative Folgen auf die Gesundheit und die Arbeitszufriedenheit und erhöhen die Kündigungsabsicht.
  6. Die wahrgenommene Verpflichtung, in der Freizeit erreichbar zu sein, wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus.

Feel Good Management

Mittels Mittarbeitergesprächen wird definiert, was optimiert werden kann und Ziele werden gesetzt. Dies impliziert, dass man so, wie man ist, nicht in Ordnung ist. Heute, in einem Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, wird suggeriert,  dass man das «Top im Job» erreichen kann, egal wo man gestartet ist. Alles ist machbar. Man muss nur wollen und können. Vor allem sich selbst gestalten, sich selbst in eine immer wieder neue Form würgen. Und auch das eigene Wohlbefinden soll man selbst im Griff haben, egal, was die Arbeitswelt fordert.

Und wenn nicht? Da gibt es jetzt die Feel Good Manager. Feel Good Management umfasst sämtliche Aktivitäten, die zum Wohlergehen der Mitarbeitenden und dadurch zur Verbesserung der Arbeitsleistung beitragen. Es gibt bereits Weiterbildungsangebote zu dieser beruflichen Funktion. Die Anbieter sind überzeugt: «Moderne Unternehmen wie Google verfügen über Personen, die sich um das individuelle Wohlergehen jedes Einzelnen in der Firma kümmern. In Zukunft wird der Feel Good Manager wie der Nachhaltigkeitsbeauftragte nicht mehr aus dem Unternehmen wegzudenken sein.»

Feel Good Manager fordern permanentes Selbstmanagement – das überfordert. Man soll sich immer wieder neu erfinden, so lange, bis man sich selber nicht mehr kennt. Das macht krank. Vorgesetzte und HR-Leute werden zu Feel Good Managern und managen ihre Mitarbeitenden – umfassend, da die Arbeitswelt mit der permanenten Erreichbarkeit auch ins Privatleben überschwappt. Ein respektloses Unterfangen, vor dem jedem graut, der sich nicht managen lassen will, als wäre er statt einer einzigartigen Persönlichkeit ein Stück defizitäre Knete, die geformt werden soll. Erschöpfung mit intensivem Selbstmanagement bekämpfen ist wie Alkoholismus mit Schnaps bekämpfen.

Im Spannungsfeld unter Zerreissprobe

Einerseits sollen sich die Mitarbeitenden mit dem Unternehmen identifizieren. Anderseits sind sie zu einem Angebot auf dem Arbeitsmarkt degradiert, das von Recruitern entweder entdeckt oder ignoriert wird. Zudem einfach auszuwechseln, wenn es mit dem Selbstmanagement und dem Feel Good Management gerade mal nicht klappt – oder anderes «Menschenmaterial» benötigt wird. Wie soll man sich mit einem Unternehmen identifizieren, wenn  Vorgesetzte und HR ihre  Aufgabe nicht mehr darin sehen, ihre Mitarbeitenden in einem guten Arbeitsklima darin zu unterstützen, Arbeitszufriedenheit mit angemessenen Herausforderungen zu leben, sondern darin, «unrentable» Mitarbeitende mithilfe von Recruitern und Talent-Pools rechtzeitig auszuwechseln?

HR-Leute sitzen mittendrin in diesem Spannungsfeld – sie sind einerseits selbst Mitarbeitende und diesen Strömungen ausgesetzt, anderseits sind sie, salopp gesagt, Mittel zum Zweck bei der Realisierung des Prinzips «Kaputt-optimieren». Immer mehr Menschen werden selbst-bewusst wählen: Wollen sie ihr Lebenskonzept gestalten nach dem Prinzip «Sein», das darauf basiert, dass man in Ordnung ist, wie man ist, oder nach dem Prinzip «Optimieren». Immer mehr wird realisiert: Besser und mehr sind nie genug, oft aber ungesund.

7 comments for “Wir optimieren uns kaputt

  1. 1. Mai 2016 um 17:00

    Unser Problem ist doch, das wir nicht mehr abschalten können. Durch eine 24 Erreichbarkeit per Handy oder Mail haben wir praktisch keine Freizeit mehr. Der Stress im Job beherrscht uns und unser Leben. Leidtragende sind wir selbst und unser Umfeld.

  2. 23. Februar 2016 um 15:24

    Für mich geht es dabei immer um die Balance zwischen Leistung und Mensch(lichkeit) aus Sicht des Unternehmens.

    Aber letztlich erfolgt (in meiner Welt) Wachstum immer Innen nach Aussen, d.h. jeder fängt bei sich selbst an. Und genau das ist am Ende auch das, was alle Unternehmen gemein haben, die eine Transformation hin zu einer bessern Balance unternommen haben. Mindestens eine Person mit Macht und Einfluss ist einen Wandel durchlaufen und dies hat dann Stück für Stück auf den Rest des Unternehmens gewirkt.

  3. 22. Februar 2016 um 11:11

    Liebe Regula,

    ich bin absolut deiner Meinung und formuliere es gerne mal in meinen Worten.

    Wenn ich in einem System, in dem primär die Leistung im Vordergrund steht und das nach dem Menschenbild X (vereinfacht ausgedrückt) arbeitet, Massnahme wie z.B. BGM umsetze, FGM oder andere ‚Incentives‘, dann dürfte das vermutlich genau zu dem Zweck dienen, den Du beschrieben hast. Die weitere Optimierung des Menschen. Oder wie Sprenger sagt: Es ist übergriffig.

    Allerdings hat das in meiner Welt NICHTS mit New Work zu tun. Und dort liegt wohl auch genau das eigentliche Problem. Es gibt nach meinem Verständnis keine klare Definition von New Work.

    Für mich beginnt New Work aber mehr am Menschenbild, d.h. Menschenbild Y in einem Unternehmen ist für mich schon Bestandteil davon. Alles was im Anschluss an Massnahmen folgt, ist lediglich der Umsetzungsbereich.

    Bin gespannt auf deine Gedanken dazu.

    Herzliche Grüsse
    Ralf

    • 22. Februar 2016 um 12:19

      Lieber Ralf

      Ganz richtig, New Work kann ich auch nicht definieren.
      „Brave New Work“ ist ein Wortspiel in Anlehnung an Aldous Huxleys Buch „Brave New World“. Der Autor beschreibt darin die Welt einer konsequent verwirklichten Wohlstandsgesellschaft, einer Gesellschaft, in der alle Menschen am Luxus Teil haben, in der Unruhe, Elend und Krankheit überwunden sind. Freiheit, Religion, Kunst und Humanität sind vergessen – jeder Individualismus gilt als asozial.

      Es geht, wie Du schreibst, um Werte, um Welt- und Menschenbilder. Diese sind in Leitbildern atraktiv publiziert – und haben oft nicht wirklich viel mit der gelebten Unternehmensphilosophie zu tun. Gut gemeinte Lippenbekenntnisse. Gut gemeint ist aber nicht gut getan.
      Zudem leben Unternehmen ihre Weltbilder und Menschenbilder ja auch nicht auf der grünen Wiese, sondern im vielfachen Korsett verschiedener Systeme – und damit Abhängigkeiten.

      Wahrscheinlich bleibt uns im Umsetzungsbereich das stete Suchen nach einer Balance. Diese ist nicht statisch zu finden, sondern dynamisch, mit grosser Beweglichkeit und immer wieder neu. Wegweiser sind und bleiben die Werte.

      Danke für Deinen Beitrag – ich freue mich auf weiteres Ping-Pong!

      Herzliche Grüsse
      Regula

      • 23. Februar 2016 um 9:06

        Hoi Regula

        Wir alle leben im Spannungsfeld von wollen-können-dürfen-müssen. Wie du geschrieben hast, bleibt uns vermutlich nur eines übrig: die stete Suche nach einer Balance. Und da sind Arbeitnehmende genauso gefordert wie Arbeitgeber. BGM und Feel Good Manager alleine reichen wohl nicht…

        Im Gespräch mit hunderten von Klienten/innen (ca. 20% davon sind Burnout-Kandidaten/innen) fällt mir immer wieder auf, dass viele Menschen nach dieser Balance suchen. Doch der Kapitalismus fordert seinen Tribut: die Gewinnmaximierung ist darauf ausgelegt, dass man aus dem Minimum das Maximum herausholt. Und diese Maxime gilt auch für den Produktionsfaktor Mensch, der sogenannten „Human Resource“.

        Gibt es hierfür eine Lösung? Ein Patentrezept habe ich noch nicht gefunden. Ich vermute aber, dass es in Richtung Bescheidenheit und bewusstem Verzicht gehen müsste. Und das bedingt Mut und die Fähigkeit zur Abgrenzung. Und es braucht die intensive Auseinandersetzung nicht nur mit der Arbeitswelt (Brave New Work), sondern auch mit sich selbst: Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Hier spanne ich wieder den Bogen zu den von dir erwähnten Werten…

        Herzliche Grüsse aus Luzern

        Luc Auf der Maur

        • 23. Februar 2016 um 10:12

          Lieber Luc

          Danke für Deinen Beitrag!

          Tatsächlich geht es um die Suche nach Balance – immer wieder neu. Wie beim Seiltanz bringen wir uns selbst zum Wackeln, aber auch der Wind und die Seilqualität haben Einfluss.
          Letztlich bin ich aber für mich selbst verantwortlich. Es beginnt bei und mit mir selbst, bei meiner Wahrnehmung, meinen Werten, meiner Resilienz, meinen Kompetenzen… es sind unendlich viele Faktoren.

          Jeder Mensch ist eingebettet in unterschiedliche Systeme, aus jedem ist die Sicht auf ein Problem eine andere. Aber komplex muss ja nicht unbedingt kompliziert sein:-)

          Viele Wahlmöglichkeiten zu haben, bereichert das Leben. Nie hatten wir so viele Wahlmöglichkeiten betreffend Berufsleben wie heute. Das kann auch überfordern und man sehnt sich – wie Du schreibst – nach Einfachheit. Nach dem Wesentlichen.

          Ein Patentrezept gibt es wirklich nicht. Es lohnt sich aber, Veränderungsprozesse bewusst zu gestalten. Sich respekt- und liebevoll Zeit dafür zu nehmen.

          Deshalb finde ich unseren Beruf als Laufbahnberatende so wunderschön!

          Herzlich Grüsse nach Luzern
          Regula

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