Die Arbeitswelt der Zukunft entspringt der Gaming-Welt. Weshalb das eine tolle und spannende Entwicklung ist.
Ich klicke auf die Jobchannel-Stellenanzeige einer Schweizer Firma für Forstwirtschaft. Karriereseite? Fehlanzeige, ich lande in ihrer Karrierewelt im Metaverse. Da ich noch keinen eigenen Avatar habe, stellt mir die Firma verschiedene zur Auswahl. Sie symbolisieren die Unternehmenswerte und erzählen dazu eine Geschichte. Wobei, eigentlich projizieren sie sie überall um mich herum. Das ist wie im Planetarium. Wow. Und nun, welcher Wert ist mir am nächsten? Ich schlüpfe in den «Skin», der am meisten zu mir passt, öffne die Tür und stehe auf einer Lichtung in einer schneebedeckten Waldlandschaft. Die Avatare meines vielleicht künftigen Teams warten schon auf mich. Sie bitten mich an ein virtuelles Lagerfeuer. Wie schade, dass meine VR-Brille nicht auch Gerüche übertragen kann…
So könnte in wenigen Jahren eine Candidate Journey beginnen, die aufregender und individueller sein wird als alles, was die Arbeitgeber heute mit viel Geld auf die Beine stellen.
Zukunftsmusik? Vorsicht vor diesem Wort – zu häufig wird es benutzt, um sich in Sicherheit zu wiegen, bequem zu bleiben und Veränderung auf einen fernen Tag zu schieben. Die Zukunft beginnt immer schon im nächsten Augenblick. 3, 2, 1 … da ist sie schon.
Ich sehe das Szenario in spätestens fünf Jahren. Vielleicht auch schon in drei. Und die ersten sind längst drin.
Wer das Metaverse als Zuckerbergsche Dystopie verteufelt, verkennt eine seit vier Jahrzehnten stattfindende Entwicklung. So lange schon kollaborieren Menschen in virtuellen Räumen – genau das nennt man Metaversum. Ein alternativer, virtueller Ort, an dem Menschen in Form von Avataren aus allen realen Ecken der Welt zusammentreffen können. HR beginnt, dort hinzuschauen. Vor wenigen Wochen erst meldete das britische HR Magazin, dass 38 Prozent der befragten Personalprofis der Meinung sind, die Metaverse-Technologie sei für ihre Personalarbeit geeignet. Das heisst auch, 62 Prozent sehen das nicht. Zu welcher Gruppe werden Sie gehören?
Facebook hat sich in Meta umbenannt, es aber nicht erfunden: Minecraft, Roblox, World of Warcraft und viele andere sind die Pioniere. Richtig, alles Spiele. Roblox kommt der heutigen Idee vom Metaverse am nächsten. Es ist eine Welt, die von Tausenden von Entwickler*innen auf der Plattform selbst betrieben wird. Die Community hat bisher 40 Millionen Roblox-Spiele beigesteuert – sie heissen dort «Erlebnisse». 190 Millionen Menschen weltweit treffen sich darin.
Die Arbeitswelt der Zukunft entspringt aus der Gaming-Welt
Ich glaube, die Arbeitswelt der Zukunft wird sich die mächtigen Wirkkräfte aus der Gaming-Welt von heute zunutze machen, sogar müssen. Ich sehe es bei Leonard, meinem 10 Jahre alten Sohn. Die Begeisterung, mit der er Roblox spielt, beeindruckt mich. Doch Moment, spielt er wirklich? Letzte Woche hat er über eine App T-Shirts gestaltet, die er im Metaverse verkauft. Neulich hat er eine Klassenkameradin im Spiel gefunden, seitdem reden sie tatsächlich auch in echt. Im Erlebnis «Meepcity» hat er einen eigenen Partyraum kreiert, in dem sich mal zehn, mal vierzig «Spieler*innen» aus der ganzen Welt treffen, die mit ihm überlegen, was der Raum sonst noch brauchen könnte. Oder sie hopsen einfach nur herum. Gerade probiert Leonard mit «Roblox Studio», sein eigenes Erlebnis zu erfinden. Codieren für die Jüngsten.
Besser als Michael Silberberg kann ich es nicht auf den Punkt bringen. Im April 2021 schrieb der Blogger auf redef.com: «Like many, I spent more and more time in the metaverse this past year. I built a drag racer, (hyper) casually explored city management, and rolled a fair bit of virtual sushi. As I revisited favorite gaming haunts and discovered new ones, I realized that the metaverse is no longer my solitary hangout, but the place I go to spend time with my friends, family, and communities.»
Mein Avatar und selbst kreierte Räume – mehr Identität geht nicht
Identität, Identifikation, Gemeinschaft und geteilter Sinn – das sind die Grundzutaten von New Work, das ist der Kitt für jede Arbeitswelt der Zukunft. Ganz gleich, ob in Präsenz, hybrid oder komplett remote. Virtuelle Räume geben den idealen Rahmen.
Aber nicht nur die. Welche emotionale Bindung Menschen zu ihrem Avatar haben können, wissen wir nicht erst seit dem erschreckenden Video über die Reaktion des World-of-Warcraft-Spielers, als er bemerkt, dass seine sich sorgende Mutter das Spiel und damit seinen Avatar gelöscht hat.
Die ersten Avatare gab es schon 1974. Damals erschien das erste Stift-und-Papier-Rollenspiel «Dungeons & Dragons». Generationen von Teenagern und jungen Erwachsenen erschufen «Charaktere» oder «Helden», die Ausdruck der eigenen Identität wurden. Und die Welten, in denen sie wandelten, erfanden sie gleich dazu. Virtuelle Realität hiess damals Phantasie. Vielen galten sie als Nerds.
Die heutige Generation Roblox würde niemand als «nerdig» bezeichnen. Sie ist der Arbeitswelt übrigens sehr nahe. Sie ist die Generation Z, heute 10 bis 27 Jahre alt. Sie entern den Arbeitsmarkt als nächstes. Und die Generation Alpha folgt ihnen auf dem Fuss Für sie sind diese Nutzungsformen ganz normal. Während die Millennials mit dem Internet aufwuchsen, wachsen sie in einer Welt der Metaversen auf. Die «Digital Natives» von früher sind dann zwar ihre Vorgesetzten, sie werden ihnen aber vorkommen wie Ureinwohner eines anderen Planeten, die mit einem seltsamen Werkzeug namens Internet arbeiten.
Doch wie könnte das Arbeiten im Metaverse praktisch aussehen? Ich wage eine Prognose und möchte es anhand dreier Beispiele deutlich machen:
2023: Adieu, Zoom und Teams
Das Virtual Office lässt das Zoomen aus dem Homeoffice wie einen Spuk erscheinen. Virtuelle Arbeitsräume geben uns das einzigartige Gefühl, dass wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen im gleichen Raum aufhalten.
Und wir können diese Räume sogar selbst gestalten. Die Führungskräftekonferenz am Fusse eines Wasserfalls, das Produktentwicklungsteam trifft sich in einem Krater auf dem Mars, und das tägliche «Stand-up» startet beim Sturz aus einem Helikopter. Dank freiem Fall zur Erde bleibt es auch so kurz wie es geplant. Konferenzräume kennen keine Grenzen mehr. Jedes Team hat seine eigenen und – anlassbezogen – immer andere. Der Schub an Motivation lässt sich nur erahnen.
Dagegen mutet Facebooks erster Schritt noch eher langweilig an. Mit «Horizon Workrooms» will das Netzwerk den hybriden Arbeitswelten eine neue Dimension des Miteinanders schenken. Die Menschen treffen sich per Avatar in einem Arbeitsraum, brainstormen zusammen oder haben einfach Spass. Das Trailervideo zeigt, wie gut es schon heute funktioniert. Der Werbeslogan ist erstaunlich auf den Punkt: «Getting on the same page starts with getting in the same room.»
2024: Recruiting als virtuelle Reise
Einige tun es längst. Im erwähnten Artikel des britischen HR Magazin wird Jeremy Dalton von PwC Grossbritannien zitiert, der den faszinierenden Jobtitel «Head of Extended Reality» trägt. PwC setzt die Metaverse-Plattform «Virtual Park» in der Candidate Experience ein. Dort finden Interviews und Begegnungen mit Mitarbeitenden statt, die Kandidat*innen erhalten ausserdem Einblicke in die Unternehmenskultur. Über 17‘000 Absolventinnen und Absolventen konnten bisher im «Virtual Park» begrüsst werden. Samsung und Hyundai sprechen im Interview über Jobmessen in einem Metaverse-Programm namens «GatherTown». Natürlich für Menschen auf der ganzen Welt.
Die Potenziale sind gross. Sowohl für die allgemeine Arbeitgebermarkenbildung als auch für die jobspezifische Information. Kontaktpunkte im Metaverse werden den persönlichen Kontakt mit «echtem Gesicht» nie ganz ersetzen. Ihn aber umso besser vorbereiten. Sie können die Arbeitgeberidentität besser ausdrücken als ein Imagefilm, sie ermöglichen den Werte- und Kulturcheck in neuer Intensität. Ich schreite mögliche Entwicklungspfade im wahrsten Sinn des Wortes ab. Mitarbeitende und Bewerbende können sich mehrdimensional kennenlernen, Zusammenarbeit proben und sozial beschnuppern. An einem virtuellen Konferenztisch oder während einer «Assessment Cruise» auf dem firmeneigenen Dreimaster – einsame Insel inklusive.
Die heutige Karriereseite ist ein Poster an der Wand, verglichen mit den Karriereräumen im Metaverse. Ich werde sie betreten, wann immer ich will, von wo ich will. Und dank meines Avatars auch, als wen ich will.
2025: Real gelebte Werte dank virtueller Architektur
À propos Grenzen: Das gilt nicht nur für Konferenzräume. Bald beginnen erste Arbeitgeber, das ganze Firmengebäude ins Metaverse zu transportieren. Einige haben schon experimentiert. Der Maschinenhersteller Voith liess 2015 in Minecraft sein Trainingscenter von Azubis nachbauen. Heute könnte man bestimmt hineingehen, und morgen wäre es ein Cape Canaveral der Trainings, in dem sich die Azubiteams in ihrem Shuttle treffen, um in eine Trainingswelt zu fliegen.
Organisationspsychologisch ist das extrem interessant. Völlig neue Möglichkeiten für Zusammenarbeit, soziale Interaktion und das Erleben der Unternehmenskultur. Speziell für sinn- und werteorientierte Unternehmen ist das die Revolution der «Employee Experience». Der virtuelle Unternehmensraum ermöglicht eine Architektur, die Purpose, Werte und die Arbeitgebermarke so erlebbar macht, wie es in der echten Welt nur über eine Abrissbirne ginge. Paradox? In der virtuellen Welt wird das real, was in der echten Welt ein Wunschtraum bleibt.
Zukunftsmusik? Probieren Sie es aus. Für 399 Franken erhalten Sie aktuell bei digitec.ch eine Oculus Quest 2 mit 128 GB. Oder Sie verwenden das Geld für etwas derzeit Sinnvolleres in der realen Welt. Hier, hier oder hier können Sie für die Menschen in der Ukraine spenden.
Metaverse ist eine abgehobene Träumerei von Zuckerberg und Technologie-Fantasten. Man versuchte dies schon einmal und scheiterte mit Second Life kläglich und sogar bei den Gamern tragen nur zwei Prozent VR-Brillen. Und 35 Prozent der 18-39-Jährigen fürchten sich gemäss neuesten Befragungen vor digitalen Parallelwelten und der Entfremdung vor sich selbst. Die nur schon in den sozialen Medien immer grösser werdenden und ungelösten Probleme würden sich in einem Metaverse noch potenzieren: Wenn man es schon nicht schafft, permanent gesellschaftszersetzende Fake News zu verhindern, wie will man das in einem Metaverse gewährleisten? Und einen Lebensraum in die Hände eines Techkonzerns zu geben, der durch unzählige Pannen das Vertrauen der Nutzer mehr und mehr verliert, kommt hinzu.