Wer Profil hat, spurt nicht

HR-Leute zeigen bei der Personalselektion ungern Profil. Anpassungsfähigkeit wird gross geschrieben. Unbequeme Mitarbeitende passen nicht ins Konzept. Doch Innovation ist nicht nur Chefsache.

In der Laufbahnberatung freut man sich über Menschen, die Profil haben, die auch mal gegen den Strom schwimmen, nicht überanpassungsfähig sind, sondern ihre Einzigartigkeit selbstbewusst leben und daraus entsprechende Kompetenzen entwickeln. Das heisst nicht, sich nicht anpassen zu können, sondern ein immer wieder neu reflektiertes Menschen- und Weltbild zu haben und dieses zu leben. Wer seine Werte nicht leben kann, wird krank. Zu viele Erwerbstätige resignieren, arbeiten für die Lohntüte, statt aus einer inneren Berufung heraus. Dienst nach Vorschrift, abgelöscht.

Wollen sich Menschen beruflich neu positionieren, die nicht den Klischees – flexibel, teamfähig, dienstleistungsorientiert – entsprechen, scheitern sie bei der Stellensuche. Denn HR-Leute haben selten Mutanfälle, die sie dazu bewegen, nicht-stromlinienförmige Bewerber zu berücksichtigen. Mittelmässigkeit wird zelebriert. Provokative Frage: Lässt sich die Innovationsfreude eines Unternehmens an den Persönlichkeiten im HR messen? Werden unbequeme, aber innovative Mitarbeitende unterstützt und gefördert oder aktiv oder passiv eliminiert – oder gar nicht erst eingestellt?

Der Szondi-Test wurde in der Diagnostik eingesetzt. Er basiert auf der Erfahrung, dass in psychiatrischen Kliniken neueintretende Patienten unbewusst den Kontakt mit Patienten mit der gleichen Diagnose suchten. Menschen, die gleich ticken, ziehen sich an. Dieses Phänomen wirkt unbewusst bei der Personalselektion.

Welche Persönlichkeitsstrukturen haben Leute, die sich für das HR entscheiden? Es sind selten kreative Querdenker. Ausnahmen bestätigen die Regel: Jörg Buckmann, der mit seinem frechmutigen Personalmanagement bei der VBZ Bewegung in die Szene brachte.

Unsere Wirtschaft braucht innovative Mitarbeitende, die nicht mit gestutzten Flügeln fliegen und angezogenen Handbremsen fahren wollen. Deshalb braucht es im HR-Bereich Menschen mit Ecken und Kanten, die sich freuen, wenn Bewerber nicht dem Mainstream entsprechen. Softwareprogramme basieren auf Durchschnittswerten. Sie eliminieren Bewerber, die nicht ins Schema passen – zu alt, zu jung, fehlender Abschluss, Lücke im Lebenslauf, überqualifiziert… Durchschnitt ist selten innovativ.

Es braucht Fachleute mit Liebe zu Menschen mit Ecken und Kanten. Mit dem Mut, Stellen so zu besetzen, dass Innovation nicht nur top-down initiiert wird. Die es lieben, in ihrem Berufsalltag mehr zu tun, als eventuell mögliche Probleme präventiv zu vermeiden und Menschen, die nicht den gängigen Normen entsprechen, eine Chance zu geben. HR-Leute, die selbst nicht Durchschnitt sind.

Metapher Überanpassung

Arbeitsmittel Überanpassung

Arbeitsmittel Innovationskompetenzen

Kolumne Mutanfälle

7 comments for “Wer Profil hat, spurt nicht

  1. 19. Mai 2016 um 21:51

    Ich stimme Frau Zellweger zu bei der Aussage, dass Mittelmässigkeit in der Personalselektion Vorrang hat.

    Viele andere Behauptungen sind – sorry – Mumpitz.

    Unbequeme Mitarbeitende werden gleichgestellt mit innovativen Mitarbeitenden. Das mag sein, muss aber nicht. Es gibt auch Bewerbende, die anpassungsfähig und trotzdem innovativ sind. Unbequeme Mitarbeitende, die weder innovativ noch Leistungsfähig sind. Querdenker, die einen Mehrwert bringen oder nur des Querdenkens wegen quer denken.

    Sie kritisiert, dass Softwareprogramme auf Durchschnittswerten basieren, zieht aber den Szondi-Test als Argumentation herbei, der ebenfalls – wie alle diagnostischen Tests – auf Durchschnittswerten basiert.

    Das Gesellschaftsphänomen, dass Menschen ohne Ecken und Kanten eher gewählt werden, schiebt sie den „HR-Leuten“ in die Schuhe. Das ist billiges HR-Bashing. Ich kenne viele Personalverantwortliche, die den Mut haben, „spezielle“ Dossiers zu empfehlen, aber von den Vorgesetzten ausgebremst werden. Die Vorgesetzten erstellen die Anforderungsprofile, die zur Vorselektion beigezogen werden. Sie sind verantwortlich für die Personalauswahl, und es soll Vorgesetzte geben, die Mittelmässigkeit mit pflegeleicht verbinden.

    Ich finde das Thema wichtig, aber leider undifferenziert dargestellt.

  2. Charly T.
    19. Mai 2016 um 16:17

    Ich kann dem Artikel nur zustimmen. Seit Jahren hat sich sehr wenig verändert, weder bei den Linienchefs, noch bei den meisten HR-lerInnen. Man hat am liebsten den 1:1 Ersatz, geht schnell und macht keinen Aufwand. Von wegen „Persönlichkeit, Engagement, Kreativität, etc.“ – häufig nur leere Phrasen.

  3. 19. Mai 2016 um 15:48

    Perfekt geschrieben. Und genau aus diesem Grunde habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich funktioniere nämlich nicht nach Schema „F“. Mein Hirn arbeitet permanent, denkt sich immer wieder etwas zu Themen, die zu 99% auch auf der Zunge landen. Schmeckt halt nicht jedem. Ich arbeite mit meinem ganzen Körper, der Kopf gehört dazu. Wie heißt es doch so schön Papier (heute Dateien) ist geduldig. 10 Jahre auswendig gelernt (studiert), aber nicht in der Lage das in die Praxis umzusetzen. Menschen muss man mögen und verstehen können, und nicht etwas vorspielen. Am Ende fliegen sie doch auf.

  4. 19. Mai 2016 um 15:31

    Liebe Frau Zellweger, vielen Dank für diesen guten Text. Auf der einen Seite soll der moderne Mitarbeiter wie ein Entrepreneur agieren, auf der anderen Seite still und unauffällig seinen Job verrichten. Was denn nun? Auch ich denke, dass es ohne ein paar Ecken und Kanten nicht geht – Originalität hat dabei nichts mit Ellenbogen-Techniken zu tun.

  5. Thomas A Biland
    19. Mai 2016 um 9:32

    Ein Kompliment zu diesem Artikel – ich kann Sie nur unterstützen. Wir brauchen dringend ein Umdenken. Die Mutlosigkeit in gewissen Firmen ist beängstigend. Risikovermeidung und Angepasstheit ist Trumpf – auch wenn die Profile von „Unternehmer“, „Kreativität“, „Veränderung“ sprechen. Doch es ist nicht nur ein Thema der HR Leitungen. Oft liegt das Problem eine Etage höher, wo man Veränderung predigt aber tatsächlich nur im traditionellen Rahmen. Auf dieser Etage brauchen wir einen neuen Typ Manger! Es ist Zeit für einen Wechsel, denn mit alten Methoden löst man nicht die kommenden Probleme der Industrie 4.0.
    Es ist auch ein grosser Unterschied zwischem dem „germanisch“ geprägten und angelsächsischen Umfeld festzustellen, wenn es um Rekrutierung geht. Letzteres setzt i d R ganz klar auf mehr „Persönlichkeit“.
    Die Wirtschaft der Zukunft wird noch vermehrt durch Veränderung und nicht durch Mainstream geprägt sein. Ihr Artikel beleuchtet hier ein Kernproblem!
    Danke!

  6. Sabine Biland-Weckherlin
    19. Mai 2016 um 9:15

    Wie recht Sie doch haben, Frau Zellweger! Der Artikel gehört schon seit Langem geschrieben und ich danke Ihnen dafür! Herzliche und noch unbekannte Grüsse von Ihrer Mit-Bloggerin, Sabine Biland-Weckherlin

  7. Leandra
    19. Mai 2016 um 8:22

    Guter Artikel und spannendes Thema! Wir setzen zum Beispiel auf die Persönlichkeitsanalyse von Master und ich persönlich mag Menschen, die starke Ausprägungen haben lieber als jene die vor allem in der Mitte sind. Kommt natürlich auch immer auf den Job an, den wir besetzen müssen. Vielleicht liegt es ja einfach auch daran, dass bei mir selbst fast kein Punkt in der Mitte ist was deine Theorie wieder stützen würde :) Bin auf andere Meinungen gespannt…

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