Jüngere wie ältere Arbeitnehmende werden oft vorschnell verurteilt. Inzwischen hat sich insbesondere die Integration von älteren Arbeitnehmenden in den Arbeitsmarkt verbessert. Dennoch bleiben ihnen im Fachkräftemangel nach wie vor sinnstiftende Karrierewege verschlossen. Ein Anstoss zum fortschreitenden Kulturwandel.
Ich begleite Menschen in allen Lebensabschnitten ihrer Karriere. In ihnen sehe ich Vielfalt, Ressourcen, Träume und Visionen. Ihre Bewerbungserfahrungen zeigen mir, dass Altersstereotypien wie mangelnde Arbeitsmotivation bei der GenZ oder Leistungseinbrüche bei über 55-Jährigen selten zutreffen. Stattdessen sehe ich Menschen, die sich im Leben manchmal verirren, und dennoch ihre individuellen Wege sinnvoll gestalten wollen.
Meine Coachees werden laufend als zu alt eingestuft. Oder zu jung. Zu wenig qualifiziert. Zu qualifiziert. Im Alter, um Kinder zu bekommen; sprechen nicht genügend Schweizerdeutsch; sind kulturfremd. Und meist sind sie auch zu teuer. Gründe gibt es stets.
Schliesslich, und diese Aussage höre ich in letzter Zeit vermehrt, würden bei Restrukturierungen ja lediglich «die weniger Qualifizierten» entlassen. Die Alten. Und die, die nicht mehr mitmögen.
Ich halte das für eine Realitätsabwehr. Denn wir müssen Wege finden, um mit den Menschen zusammenzuarbeiten, die da sind. Wachstum gehört deshalb neu interpretiert; das soziale Miteinander neu gestaltet. Wer in der Dauerkrise nach wie vor die Haltung vertritt, nur die Besten anzuheuern, dürfte zusehends schrumpfen. Denn die Besten erfüllten digitale Kompetenzen, seien jung, hoch leistungswillig und -fähig und günstig. Nur: Sie werden rar.
Nutzen Älterer erkennen
Der überwiegende Teil der Bevölkerung wird älter, erfahrener und von den bisherigen Arbeitserfahrungen abgeklärter. Bei ihnen hapert es manchmal mit digitalen Kompetenzen. Bewerbende im Alter 50 Plus haben es im Bewerbungsprozess oft schwer. Wegen ihren langjährigen Anstellungsverhältnissen brauchten sie sich damals nicht zu bewerben. Ihnen fehlt heute die Kompetenz, Stelleninserate zu analysieren und mit ihren erarbeiteten Fähigkeiten abzugleichen.
Bei einer idealistischen Vorstellung über die Form von Bewerbungsunterlagen wird der dahinterstehende Mensch nicht erfasst. Doch es gibt gute Gründe, Potenziale älterer Arbeitnehmender zu erkennen:
- Sie verfügen über eine höhere Problemlösungskompetenz durch ihre Lebenserfahrung.
- Sie sind fokussiert und leistungsorientiert.
- In Entscheidungsprozessen gehen sie bedacht vor und wägen sorgfältig ab.
- Aus ihrer Erfahrung heraus arbeiten sie klug und selbständig.
- Dank etablierter Routinen sind sie präzise in ihrer Arbeit.
- Arbeitgeber können auf ihre erhöhte Loyalität zählen.
- Sie denken vernetzter und komplexer aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung im Arbeitsumfeld.
- Ein beachtliches Netzwerk steht zur Verfügung, wenn entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.
- Die Familienplanung ist abgeschlossen, was ihnen auch eine gefestigte Persönlichkeit verleiht.
- Mit guter Resilienz bleiben sie länger bei Herausforderungen in der Arbeitsstelle.
Der Ruf nach Führungskräften als Coaches und Mentoren schafft ungenutzte Potenziale: Ältere Mitarbeitenden können aufgrund ihrer Erfahrung Jüngere und Neueinsteiger fördern und unterstützen. Sie können ihr Wissen weitergeben, wodurch das Wachstum und die Entwicklung der jüngeren Generation gefördert werden. Entsprechend entwickelt, bergen ältere Mitarbeitende oft wunderbare Talente in sich, um im Umgang mit verschiedenen Situationen gelassen umzugehen und bei der Lösung von Konflikten und Problemen am Arbeitsplatz eine wertvolle Rolle zu spielen. Ausbildungen wie der Betriebliche Mentor mit eidgenössischem Fachausweis bieten ein Berufsbild, um die Konfliktkultur in Unternehmen aktiv zu gestalten.
Im angestammten Arbeitsbereich profitieren Arbeitgeber bei älteren Arbeitnehmenden von vergangenen Stationen und nutzen somit hoch kompetente und ausgebildete Profile im Arbeitsmarkt. Da ältere Arbeitnehmer bereits über eine langjährige Erfahrung verfügen, können Unternehmen möglicherweise auch Kosten für die Schulung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter einsparen.
Der Ruf nach jungen, günstigen und leistungshungrigen Arbeitskräften verschärft den Fachkräftemangel. Wem es gelingt, eine Arbeitsplatzdiversität zu schaffen – und sie sich auch leistet –, fördert die Vielfalt am Arbeitsplatz und eröffnet sich Chancen für eine lang ersehnte Stellenbesetzung. Hilfreich dabei sind gezielte Massnahmen für einen Generationendialog und die Gestaltung von Übergängen.
Potenziale weiter ausschöpfen
Immerhin zeigt die Schweizer Wirtschaftsentwicklung in der Dauerkrise solide Ergebnisse, auch wenn die Arbeitslosenquote den Boden erreicht hat und keine Trendwende absehbar ist. Die Schweizer Arbeitskräfte setzen ihre Potenziale ein.
Gemäss bundesrätlichem Bericht zur Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt nehmen viele Personen am Arbeitsmarkt teil. Im Jahr 2021 belief sich die Erwerbsquote der 15- bis 64-Jährigen auf 83,7 Prozent. Das liegt deutlich über dem europäischen Durchschnitt (EU27: 73,6 Prozent). Insbesondere wuchs vor allem die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen. Ihre Erwerbsquote nahm um 5,9 Prozentpunkte auf 75,8 Prozent zu.
Diese Entwicklung ist einerseits Folge der demografischen Entwicklung. Aber nicht zuletzt ist es auch ein Lernerfolg, dass überholte Vorstellungen idealer Mitarbeitender überdacht und die Ressourcen der Menschen neu wertgeschätzt werden – um weiterhin miteinander wirtschaftlich stark zu bleiben.
Dieser Beitrag ist einer der besten, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Vielen Dank Armin, denn ich stimme Dir zu 100 Prozent zu. Ich selbst gehöre zu den älteren – bin allerdings selbständig. Kenne diese Thematik trotzdem. Bei mir im Geschäft ist es so, ich verbinde meine Fähigkeiten mit denen der Jugend- und suche mir immer für Bereiche, die ich selbst nicht abdecken kann – die besten.
Ich bin auch selbst davon überzeugt, dass das Potenzial für die Arbeit von Senioren im „intergenerationellen“ Bereich liegt, mit der Übertragung von Kompetenzen um Neue zu kreieren. Und das alles in einer Dynamik zwischen allen Generationen. Vielen Dank für diesen Artikel, der sehr interessant und sinnvol ist.
Danke für diesen informativen und gut recherchierten Artikel. Als Personalfachfrau unterstütze ich immer wieder ältere Arbeitnehmende bezüglich Bewerbungen. Als dipl. Graphologin helfe ich den Arbeitgebenden mittels einer Potenzialanalyse den richtigen Kandidaten, die richtige Kandidatin für den ausgeschriebenen Job zu finden. Was macht diese Person aus? Passt sie ins Team, bringt sie die verlangten Fähigkeiten mit, insbesondere die verlangte soziale Kompetenz?
Doris Aerne