Für immer 2019

Print Friendly, PDF & Email

DigitalisierungZukunftsforschung heisst manchmal kontrafaktisch zu denken. Was wäre passiert, wenn Covid-19 nicht unser Leben auf den Kopf gestellt hätte? Wo stünden wir Ende 2020, wenn uns das Virus nicht erschienen wäre?

Wir unterhielten uns immer noch über dieselben Themen wie Ende 2019 – mit genau denselben Leuten.

Wir sprächen abstrakt darüber, wie Blockchain, Big Data und künstliche Intelligenz einst unsere Arbeitswelt auf den Kopf stellen würden. Gross denkend, hätten wir übersehen, wo im Kleinen digitales Potenzial brachliegt: In Webshops, durchgängigen Prozessen, eFormularen und QR-Codes. Beim visionären Denken fehlten uns die Erfahrungen der letzten Monate. Sie zwangen uns, die digitale Universität, Videokonferenz-Marathons, Online-Konferenz und Telemedizin konkret zu erleben. Wir würden immer noch von Veranstaltung zu Veranstaltung hetzen. Die ewigselben Disruptionsbeispiele würden uns ebenso langweilen, wie die anwesenden Köpfe und Speisen am Apéro Riche. Wir haben sie dutzende Male gesehen. Niemals hätten wir uns getraut, einen Kongress als Kleinformat, als Zoom oder als Live-Sendungen mit Mona Vetsch neu zu denken.

Soziale Gewohnheiten hätten wir unhinterfragt fortgesetzt.

Täglich setzten wir uns in die Pendlerzüge, unseren Sitzungen hielten wir diszipliniert ab. Wir würden Hände schütteln, Krawatten mit Respekt und Stil verwechseln, bis kurz vor fünf vor dem Computer ausharren. Unsere Arbeitswelt wäre noch dieselbe. Wir hätten ein paar Wände farbig gestrichen, ein paar Einzelbüros aufgelöst, ein bisschen Holokratie gespielt. Dass unsere Führungskräfte keine Ahnung von Digitalisierung haben, hätten wir nur hinter vorgehaltener Hand gesagt. Wir hätten dieselben Profile rekrutiert wie in den letzten zehn Jahren. Dass wir unsere Organisationen auch mittels Spaziergängen im Wald, persönlichen Telefonate oder dem gehäuften Arbeiten in Zweierkonstellationen mit gegenseitigen Feedbacks auf Augenhöhe aufbrechen können, hätten wir nicht erkannt. Wir hätten uns wenig Gedanken darüber gemacht, wie wir im Digitalen gemeinsam genutzte Arbeitsräume und die zufälligen Gespräche an der Kaffeemaschine pflegen können.

Ohne Clusterfuck hätten wir die Mängel der Immunsysteme unserer Unternehmen übersehen.

Agilität wäre ein theoretisches Konstrukt geblieben. Wir hätten Strategiepapiere verfasst, Folien mit mutigen Entwürfen bepinselt – freilich ohne Notwendigkeit, jemals irgendetwas umzusetzen. Je länger gewünschte Veränderungen gedauert hätten, je satter die Gewinne gewesen wären, desto mehr hätten wir uns hinter unbestimmten Techno-Visionen versteckt. Ohne Test, wie gut das unternehmerische Immunsystem Infodemien, negativen Stimmungen oder unterbrochenen analogen Ketten gewappnet ist, wären wir noch immer in der naiven Boomblase 2019. Die Differenzen zwischen aggressiven Innovatorinnen und trägen Conservateuren wären Monat für Monate grösser geworden. Es hätte immer weniger gegeben, das die Abgehängten und Hyperaktiven verbunden hätte. Wären die hyperaktiven Innovationstreiber durch die Leerläufe durchgebrannt?

Chefs könnten vordigital führen – ohne sich lächerlich zu machen.

Sie würden behaupten, Homeoffice funktioniere nicht, zu Hause wäre man einfach nicht effizient. Sie beharrten darauf, dass Leistung Präsenz voraussetzt. Datenkompetenz bezeichneten sie als Fähigkeit, die dann mal in der Zukunft wichtig sei. Oder als etwas, das nur die ganz Grossen in den amerikanischen und chinesischen Valleys beherrschen. Man akzeptierte ihre Arroganz und Ignoranz, weil sie eben die rechthaberischen Chefs sind. Sie kämen in Turnschuhen zur Arbeit, aber wären im Kern weder an Veränderung noch Feedback interessiert. Sie würden darauf beharren, dass man die Zukunft voraussehen, in Zahlen fassen und in Ziele deklinieren kann. Man muss sich einfach nur genug Mühe geben. Überall stünde, die Mitarbeitenden seien die wichtigste Ressource – ohne HR in die Geschäftsleitung zu holen. Die Organisation betrachtete man weiter als Geld- statt als Wissenskörper.

Wir hätten keine Ahnung von der Zukunft.

Unsere Inkompetenz bemerkten wir nicht. Im Gegenteil, wir gratulierten uns für die Digital Boards und den Outpost in Peking. Zukunftsgestaltende Trends abseits des Digitalen, die grüne oder demographische Transformation blieben genauso unsichtbar wie latenten Infekte unserer Körper, Medien, Unternehmen und Maschinen. Wer auf die Rollen der Tiere, Viren und Wälder aufmerksam machte, hätten wir belächelt, als Gutmensch oder mühsame Hippie abgetan. Hätten wir überlegt, ob Kapitalismus ohne Fleisch, Autos und jährlichen Transatlantikflug möglich ist? Wir hätten lebenslanges Lernen gepredigt – ohne uns nächtelang einem Thema zu widmen. Wir hätten nicht zuzugeben, dass für Wissensarbeitende eine einzige Ausbildung nicht mehr genügt, um mit der Fülle, den multimedialen Formen, den Widersprüchen und Bedrohungen der Wissensgesellschaft im 21. Jahrhunderts umzugehen.

8 comments for “Für immer 2019

  1. 3. April 2023 um 9:29

    Der Artikel befasst sich mit den Veränderungen und Herausforderungen, die das Jahr 2019 mit sich bringt, und wie sich diese auf unser persönliches und berufliches Leben auswirken. Es ist eine nachdenkliche und introspektive Lektüre, und ich schätze die Ehrlichkeit und die Einblicke des Autors. Vielen Dank, dass Sie Ihre Perspektive mit uns teilen.

  2. 28. Dezember 2022 um 13:52

    Danke.
    Das ist ein interessanter Gesichtspunkt.

  3. 4. Dezember 2020 um 10:22

    Der Text gefällt mir, bringt mich zum Schmunzeln 😉 – das tut gut! Nur: Ich sage dir im ernst, lieber Luc, es ist eindrücklich zu sehen, wie viel Kraft Teams und Organisationen aufbringen können, damit der Wandel immer noch nicht eintreten darf.

    Herzlich, Barbara

    • 7. Dezember 2020 um 12:24

      Liebe Barbara – Danke Dir und den anderen Schreibenden unten…
      Und ja, genau! Du hast die versteckte Botschaft im Text gefunden. :-)

  4. 3. Dezember 2020 um 10:53

    So was von auf den Punkt gebracht. Ja effektiv hat Corona auch viel Positives angestossen. Der Anstoss kam für mich aus einer unerwarteten «Ecke», die auch schmerzhaft ist, doch daraus kann ein Geschenk für Viele entstehen. Der Weihnachtszeit entsprechend bleibt mir der Wunsch, dass Firmen und Führungskräfte die Themen nun nachhaltig mit Spass angehen und umsetzen.

  5. Michel Ganouchi
    3. Dezember 2020 um 10:13

    Love it!
    Dieser Perspektivenwechsel stünde allen gut zu Gesicht. Wenn ein Konjunktiv wahr wird, dann in diesem Text. Absolute Leseempfehlung.

    Herzlich,
    Michel

  6. Joël Luc Cachelin
    3. Dezember 2020 um 9:46

    Danke Christoph – Ja, es ist wohl wie immer eine Frage der Perspektive:) Viel Freude beim nach-denken; Gruss Joël

  7. 3. Dezember 2020 um 7:48

    Hey Luc
    Sehr guter, spannender, lustiger Blog. Stimmt mich gerade nachdenklich. Corona hat was positives – wenn man genügend Distanz hat. Well put. Well done.
    Danke für diesen Aufsteller.
    Gruss – Christoph

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert