Das Buch «Give and Take» von Adam Grant ist wohl allen bekannt. Doch was hinter dieser Formel steckt und wie sie von verschiedenen Gruppen gelebt und zelebriert wird, habe ich insbesondere in den letzten Wochen beobachten können. In einer Zeit, in welcher wir täglich vor neuen Herausforderungen standen, eine hohe Agilität beweisen durften und die täglich die richtige Kombination von Care und Kreativität von uns forderte. Einer Zeit, in welcher die Teams getrennt zuhause arbeiteten und die Führungskräfte und HR gefordert waren, die Motivation und den Zusammenhalt hoch zu halten.
Mit 15 Jahren habe ich zum ersten Mal realisiert, dass «Give and Take» mehr als nur eine «Tauschbörse» ist. Ihr alle kennt sie und seid damit aufgewachsen: die Panini-Bilder. Bei der EM 1984 haben mir zum Schluss 3 Spieler gefehlt. An jeder Tauschbörse im Dorf bin ich aufgelaufen. Niemand wollte mir diese 3 Bilder geben. Ich war so lange erfolglos, bis ich realisiert habe, dass ich mein Gegenüber «lesen» muss. Erst dann habe ich verstanden, was mein «Give» denn sein könnte.
«Give and Take»: nur eine Strategie?
Welche Herausforderungen bringt diese Formel mit sich und welchen Einfluss hat sie auf Teams, Unternehmenskultur und unseren eigenen Brand? Adam Grant beschreibt in seinem Buch drei verschiedene Rollen: Taker, Matcher und Giver. Bei seinen Untersuchungen stehen die «Giver» ganz klar auf der Gewinner-Seite, jedoch nur, wenn sie drei wesentliche Aspekte berücksichtigen:
- Die Frage nach dem Warum: Die Art und die Motivation des «Gebens» entscheidet darüber, ob wir aus dieser Aktion eine positive Energie ziehen und sie uns beflügelt.
- Die Frage nach dem Wann: Es ist nicht immer einfach, die Balance zwischen Geben und Nehmen zu finden. Wann brauche ich meine Ressourcen für mich selber? Wo liegt die Grenze zwischen «mir etwas Gutes tun» und andere zu unterstützen? Auch hier findet ein Energiezufluss oder -abfluss statt.
- Die Frage nach dem Empfänger: Wem gebe ich? Welche Person möchte ich unterstützen – und welche nicht?
Ein «wohlüberlegtes und gut dosiertes Geben» führt gemäss Adam Grant zum Erfolg.
Nimm dir die Zeit, in den Schuhen des anderen zu stehen
Das klingt alles ganz plausibel. Das Erfolgsrezept liegt für mich jedoch bei einem zusätzlichen Aspekt – einer vierten Frage: Was? Was braucht mein Gegenüber? Nicht immer werden die Bedürfnisse geäussert. Geht es nicht vielmehr darum zu erkennen, was denn nun genau der richtige Ansatz ist und welche «Gabe» denn genau gebraucht wird?
Um dies herauszufinden braucht es eine Aufmerksamkeit für das Gegenüber im Hier und Jetzt. Es braucht Fragen, ein offenes Ohr, Beobachtungen und in einem zweiten Schritt auch Interpretationen und ein Abholen, damit ein Bedürfnis erkannt wird. In erster Linie also Zeit und eine Offenheit, sich auf diese Frage und auf das Gegenüber einzulassen. Für mich ist dieses Investment bereits eine wunderschöne Art des «Gebens». Denn wer schenkt heute noch Zeit und Aufmerksamkeit? Leider viel zu wenige.
Die Frage nach dem Was bedeutet aber auch, dass wir unsere Bedürfnisse kennen, uns öffnen und diese formulieren können. Es braucht eine grosse Portion Vertrauen in unsere Gesprächspartner. Im Laufe meiner Karriere durfte ich verschiedene Formen eines solchen «Investments» erleben. Zum einen war da ein Vorgesetzter, der mich mit grosser Freude und grossem Engagement gefördert und aufgebaut hat. Er ist mein Mentor geblieben. Seine eindrückliche Art, Verantwortung für den «Nachwuchs» zu übernehmen, hat mich sehr geprägt. Auch ich versuche in meiner jetzigen Funktion zu geben, weiterzuentwickeln und erlebe dabei, wieviel Freude und Energie ich aus dieser Art des Gebens für mich ziehen kann.
Dann war da die ganz besondere Kultur, die ich in einem Unternehmen erleben durfte und die mich seither nicht mehr losgelassen hat. Die Kultur des «Give and Take»: Vorgelebt vom Management, mitgetragen vom gesamten Team. Warum diese Unternehmenskultur besonders war? Vertrauen in das Team und in jeden Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, zu übergeben sowie wahrzunehmen, Wertschätzung nicht nur zu zeigen sondern auch aktiv zu kommunizieren und mit konstruktivem Feedback jeden Einzelnen weiterzuentwickeln. Diese 4 Faktoren waren meiner Meinung nach der Schlüssel zum besonderen Etwas.
Ich denke an die vielen Netzwerk-Gruppen, die wir im Rahmen der beruflichen Neuorientierung moderieren durften. Immer wieder haben wir in speziellen Runden herausgefiltert, welches Anliegen ein jeder hat und wie jeder Einzelne unterstützt werden kann. Die Aufmerksamkeit, die alle Gruppenteilnehmer erfahren durften und die Energie, welche in diesen Teams entstanden ist, war erstaunlich.
Zufällig habe ich erfahren, dass innerhalb unseres Teams während der Corona-Zeit eine Initiative der besonderen Art gestartet wurde. Einzelne Teammitglieder haben regelmässig zwei Beraterkollegen angerufen – nur um zu fragen, ob im Homeoffice alles Ok ist. Auch hier wird Zeit, Aufmerksamkeit und Vertrauen geschenkt. Diese Aktion hat mich berührt.
«Give and Take»: eine Lebensphilosophie!
Für mich ist «Give and Take» keine Strategie, sondern eine Lebensphilosophie. Eine Philosophie, die grossen Einfluss auf meine und unsere Umwelt, auf die Unternehmenskultur, auf den Zusammenhang der Teams und auf unsere Gesellschaft hat.
Das Leben ist kein «Null-Summen-Spiel»: Jeder Einzelne, der gibt, gibt nichts ab und verliert nichts – sondern gewinnt dazu! Win-Win? Ja, wenn das Gegenüber auch annehmen kann. Das Wort «Take» übersetze ich nicht mit «nehmen», sondern mit «annehmen». Es ist nicht immer einfach Unterstützung, Ratschläge, Feedback anzunehmen. Wer aber die Balance hinter dem Akt sieht, ist in der Lage, diese Lebensphilosophie zu leben. Für mich muss «Give and Take» von beiden Seiten «gelebt» werden – erst dann zeigt die Formel ihre Wirkung.
Vor allem die letzten Wochen haben uns auf eindrückliche Weise gezeigt, wo unsere Grenzen sind. Doch auch welche Verantwortung wir haben. Es gibt zahlreiche schöne Beispiele von Unterstützung und Aufmerksamkeit. Werte haben wieder an Bedeutung gewonnen. Ich wünsche mir, dass diese «Lebensphilosophie» Corona überdauert und nachhaltig unserem Zusammenleben mehr Qualität bringt. Denn ich bin überzeugt, dass dieser Ansatz unser Personal Branding positiv beeinflusst.
Gerne möchte ich eine «Give and Take»-Plattform ins Leben rufen. Ich bin überzeugt, dass ein regelmässiger Austausch uns alle weiterbringen kann. Schenken wir uns Zeit, Aufmerksamkeit, Netzwerk, Kontakte und Vertrauen, eben ein «Give and Take». Nutzen wir die Gelegenheit, «Geben» zu erlernen, «Nehmen» anzunehmen und uns so weiterzuentwickeln.
Zu guter Letzt verweise ich noch auf die diesjährige Arbeitsmarkt-Studie von HR Today und von Rundstedt. Gezielte Fragen zu «Realität und Lösungen für Ü50» versuchen herauszufinden, welches die «Gives and Takes» der Ü50-Arbeitnehmenden sind und welche Lösungen Arbeitgeber planen oder bereits umsetzen. Die Umfrage läuft noch bis am 31. Juli 2020.