Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als HR-Abteilungen dafür da waren, Lohnabrechnungen zu verschicken, Stellen zu besetzen und neue Mitarbeitende mit Formularen zu bespielen? Diese Zeiten sind vorbei. Hier meine Diagnose – und ein paar unbequeme Wahrheiten.
Automatisierung verändert Jobs radikal, ChatGPT schreibt bessere Bewerbungsanschreiben als die Kandidierenden selbst, und gleichzeitig kommen unsere Führungskräfte an ihre Grenzen, weil sie versuchen, in jede Mail einbezogen zu sein. HR muss vom Rücksitz ins Cockpit wechseln. Denn: Noch nie war unsere Arbeit so gefragt wie heute.
Mit dem Fax gegen TikTok
Während Google, Meta und Co. Milliarden in KI-basierte Personallösungen investieren, kämpfen viele HR-Abteilungen noch mit Excel-Listen und manuellen Prozessen. Die Realität? Ein Team bei Siemens hat kürzlich festgestellt, dass ihre HR-Mitarbeitenden 68 Prozent ihrer Zeit immer noch mit administrativen Aufgaben verbringen – Tendenz steigend. Das ist, als würde man mit dem Fax gegen TikTok antreten wollen.
Die unbequeme Wahrheit: Viele traditionelle HR-Jobs werden innerhalb der nächsten fünf Jahre der Automatisierung zum Opfer fallen. Ich habe letzte Woche eine Demo eines KI-Systems gesehen, das komplette Bewerbungsprozesse managt, Gehaltsverhandlungen führt und sogar Kündigungsgespräche simuliert. Es war beängstigend gut.
Personalentwicklung ohne Entwicklung: «Wir müssen unsere Mitarbeitenden auf die Zukunft vorbereiten», tönt es aus allen Ecken. In der Praxis bedeutet das oft: «Wir haben ein eLearning-Portal gekauft. Jetzt kann sich jeder selbst was beibringen.» Genauso effektiv könnte man den Mitarbeitenden einen Bibliotheksausweis schenken und «Viel Erfolg!» wünschen. IBM hat gerade Hunderte von HR Mitarbeitende entlassen mit der Begründung, dass KI einen besseren Job mache.
Ein Schweizer Industrieunternehmen implementierte letztens ein hochgelobtes Lernmanagementsystem für mehrere Millionen. Nach einem Jahr hatten sich gerade mal 12 Prozent der Mitarbeitenden überhaupt einmal eingeloggt. Das ist so, als würde man ein Fitnessstudio bauen, in dem niemand trainiert.
Personalentwicklung wird gerade im Kontext von KI ein Riesenthema. Vor ein paar Wochen haben wir für die Führungsentwicklung eines grossen Schweizer Telekom-Anbieters ein Framework erstellt. Es ermöglicht Führungskräften sich eigene Strategien zurechtzulegen. Sie sollen künstliche Intelligenz nicht nur nutzen. Sie müssen die Folgen für die Führungsarbeit im Umgang mit ihren Mitarbeitern einschätzen.
Was HR zur Zukunftsmaschine macht
Kultur-Hacking statt Werte-Plakate: Erinnern Sie sich an das Google-Experiment «Project Aristotle»? Die Suche nach dem perfekten Team endete mit der Erkenntnis, dass psychologische Sicherheit der wichtigste Faktor ist – nicht Kompetenz, nicht Struktur, nicht Prozesse. Während viele Unternehmen noch fleissig ihre Werte an die Wand pinseln, haben die Vorreiter längst verstanden: Kultur ist kein Projekt, sondern tägliche Arbeit.
Ein mittelständisches Unternehmen in St. Gallen hat seine Fluktuation halbiert, indem es wöchentliche «Kultur-Hacks» einführte – kleine, aber wirksame Verhaltensänderungen, die nach und nach die DNA des Unternehmens veränderten. Etwa der «No-Email-Friday» oder die «Fehler-Feier», bei der Missgeschicke nicht vertuscht, sondern zelebriert werden, wenn daraus gelernt wurde.
Vom Chef zum Gärtner
Der Chef als allwissender Superheld hat endgültig ausgedient. Bei Buurtzorg, einem niederländischen Pflegeunternehmen mit 15’000 Mitarbeitenden, gibt es keine mittleren Manager mehr. Teams von maximal zwölf Pflegekräften organisieren sich selbst – und die Kundenzufriedenheit ist doppelt so hoch wie bei der Konkurrenz.
Auch Schweizer Unternehmen wie Familie Wiesner Gastronomie oder Liip experimentieren erfolgreich mit selbstorganisierten Strukturen. Die neue Führungskraft ist kein Kontrolleur mehr. Eher ein Gärtner, der für optimale Wachstumsbedingungen sorgt und dann darauf vertraut, dass die Pflanzen schon wissen, wie sie wachsen müssen.
Talentmagnetismus statt Stellenausschreibung
Wer heute noch glaubt, dass er Top-Talente mit einer Stellenausschreibung auf LinkedIn anlockt, kann gleich versuchen, einen Spitzenkoch mit einer Mikrowelle zu beeindrucken. Die besten Talente kommen nicht zu Ihnen, weil Sie einen Job anbieten – sie kommen, weil Sie eine Bewegung, eine Mission, eine Community bieten.
Für eine grosse Krankenversicherung haben wir das Sourcing radikal umgestellt. Die Führungskraft wird zur zentralen Figur. Community-Events, Hackathons und soziale Projekte machen den Unterschied. Man baut Beziehungen auf, lange bevor man einstellt. HR wird zum Communitymanager. Recruiting ist Sales, ist Marketing.
Wie soll man das schaffen?
1. Entrümpeln
Machen Sie einen «Kill Bill»-Tag: Jedes HR-Team verbringt einen Tag damit, überflüssige Prozesse zu identifizieren und abzuschaffen. Eine Bank in Zürich hat auf diese Weise 28 Formulare, 12 Genehmigungsprozesse und 5 wiederkehrende Reports eliminiert – und niemand hat es vermisst.
2. Daten nutzen
Ein mittelgrosses Technologieunternehmen in Basel hat ein «People Analytics»-Dashboard entwickelt, das Führungskräften in Echtzeit zeigt, wie es um das Engagement und die Fluktuationsgefahr in ihren Teams steht. Klingt futuristisch? Nein, die Technologie existiert bereits. Der Datenzug fährt schon. Aufspringen ist gar nicht so schwer.
3. Neue Arbeitsformen fördern
Statt wie einige DAX-Konzerne das Homeoffice komplett abzuschaffen, hat ein Schweizer Versicherer einen klugen Ansatz gewählt: Bestimmte Tätigkeiten – wie etwa Kreativworkshops, Teambuilding oder emotionale Gespräche – finden vor Ort statt, andere (zum Beispiel Konzentrationstätigkeiten und Routinearbeiten) zu Hause. Die Büroflächen wurden um 40 Prozent reduziert, die Mitarbeiterzufriedenheit stieg um 22 Prozent.
4. Entwicklungsprogramme starten
Ein Industrieunternehmen aus dem Rheintal hat ein Programm namens «Future Skills» gestartet: Jeder Mitarbeitende erhält ein persönliches Budget von 5000 Franken jährlich, das ausschließlich für den Aufbau zukunftsrelevanter Kompetenzen genutzt werden kann. Der Clou: Die Mitarbeitenden entscheiden selbst, welche Kompetenzen sie als zukunftsrelevant erachten – aber sie müssen es begründen können.
5. Strategischer Taktgeber sein
Um vom Dienstleister zum Taktgeber zu werden, braucht HR nicht nur neue Werkzeuge, sondern ein neues Selbstverständnis. Für eine grosse IT Firma stellen wir das ganze Performance Management auf den Kopf. Es ist nicht HR Aufgabe, die Vorgesetzten mit Formularen an die Pflicht der Mitarbeitendenentwicklung zu erinnern.
Es geht vielmehr darum, Vorgesetzte dazu zu befähigen und auszurüsten. So können sie diese Aufgabe dank verschiedener Instrumente eigenverantwortlich wahrnehmen. So wird HR Taktgeber, statt als Polizist den Chefs auf die Nerven zu gehen.
6. Mut zur Lücke
HR verbringt viel zu viel Zeit mit Themen, die niemanden schmerzen. Eine Schweizer Tech-Firma hat ihre HR-Strategie radikal umgestellt: Jedes Quartal werden die Top 3 «People-Bottlenecks» identifiziert – die grössten personellen Hindernisse für Unternehmenswachstum. Nur auf diese drei Themen konzentriert sich HR mit voller Kraft. Alles andere wird automatisiert, delegiert oder gestrichen.
7. Mehr Kommandobrücke, weniger Maschinenraum
Die HR-Leiterin eines Schweizer Pharmaunternehmens verbringt jeden Freitag auss erhalb des Unternehmens – bei Startups, auf Konferenzen, in anderen Branchen. «Mein Job ist es, die Zukunft der Arbeit ins Unternehmen zu bringen, bevor sie uns überrollt», sagt sie. Wenn ich die operative Belastung vieler HR Team sehe, ist das natürlich purer Luxus. Aber viel zu oft sitzen wir im operativen Hamsterrad. Es ist bei allem Stress auch unsere Komfortzone. Wir müssen uns mehr Zeit nehmen «am System» und nicht nur «im System» zu arbeiten.
8. Digitalisieren, automatisieren
Die Automatisierung kommt – die Frage ist nur, ob Sie sie gestalten oder erleiden. Ein mittelständisches Unternehmen in Winterthur hat seine eigene KI-gestützte HR-Plattform entwickelt, die administrative Aufgaben übernimmt und gleichzeitig wertvolle Daten für strategische Entscheidungen liefert. Die HR-Mitarbeitenden kümmern sich nur noch um das, was Menschen am besten können: zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, komplexe Probleme lösen und Kreativität fördern.
9. Weniger nett sein
HR hat ein chronisches Problem: den Wunsch, es allen recht zu machen. Erfolgreiche HR-Führungskräfte haben verstanden, dass strategisches HR manchmal Grenzen setzen muss. Eine HR-Leiterin eines grossen Detailhändlers widersprach dem CEO öffentlich, als dieser alle ins Büro zurückbeordern wollte. Sie präsentierte Daten, die zeigten, dass dies die Fluktuation um 40 Prozent erhöhen würde. Der CEO änderte seine Meinung – und respektierte sie mehr als zuvor.
Unterm Strich
Personalarbeit ist an einem strategischen Wendepunkt.
HR wird entweder zur strategischen Schaltzentrale des Unternehmens oder zur automatisierten Randnotiz. Die Zukunft gehört HR-Teams, die:
- mutig genug sind, alte Zöpfe abzuschneiden.
- neugierig genug sind, Trends zu erkennen, bevor sie Mainstream werden.
- datenorientiert genug sind, um Intuition mit Fakten zu untermauern.
- selbstbewusst genug sind, um unbequeme Wahrheiten auszusprechen.
Wie sagte ein CEO kürzlich zu mir: «Ich brauche keine HR-Abteilung, die mir sagt, was ich hören will. Ich brauche eine, die mir sagt, was ich wissen muss.»
Lieber Christoph – super geschrieben! Vielen Dank für diese messerscharfe Analyse und schonungslose Erklärung. Mutig, Neugierig, Datenorientiert und Selbstbewusst sind die Wörter und demzufolge Fähigkeiten, welche bei sehr vielen nicht vorhanden sind. Das habe ich in der Ausbildung von HR Verantwortlichen und HR BP’s sehr oft gesehen. Beste Grüsse, Adriano