Die Härte der Präsenz

Print Friendly, PDF & Email

Karriere braucht Präsenz. Ein starkes Selbstbewusstsein, überzeugende Kommunikation, Netzwerkfähigkeit und Durchsetzungskraft sind für den beruflichen Erfolg wesentlich. Oft werden diese Kompetenzen bis zur überdrehten Selbstoptimierung entwickelt. Infolgedessen entfremden sich Menschen vom eigenen Berufsstand – und von sich selbst. Und dann folgt bestenfalls eine phantasievolle Wende.

Jüngst sass ich in Salzburg in einem Kaffeehaus und verwickelte mich in ein Gespräch über die berufliche Laufbahn einer jüngeren Frau. «Ich bin Primarschullehrerin, habe aber gekündigt, weil ich diese Dauerpräsenz nicht mehr aushalte», meinte sie.

Der Präsenzbegriff wirft post-pandemisch neue Fragen auf. Was bedeutet Anwesenheit? Ist Remote-Arbeit genauso wertvoll wie die Arbeit vor Ort? Diese Streitfragen wurden in der Pendlerzeitung «20 Minuten» aufgrund der Anpassung des Homeoffice-Reglements der Swisscom debattiert. Deborah Gonzalez untersuchte am 13. April 2023 die Community. Eine Stimme, Nicolaus, sieht bei der Büropräsenz ein Problem: «Der Herr Arbeitgeber könnte sich aber auch fragen, wo die Arbeitnehmer eher krank werden – im Homeoffice oder im Büro?» Für ihn ist die Antwort glasklar: Ich vermute, er meint die Präsenz.

Ich stelle die Frage anders: «Wo bleiben Menschen in Unternehmen gesund und präsent?» Ich bin überzeugt, es sind Unternehmen, in denen Mitarbeitende und Führungskräfte sich zeigen können, wie sie sind, sich nicht verstecken müssen, Sinn und Freude in ihrer Tätigkeit entdecken und wertschätzende Beziehungserfahrungen schaffen können. Zudem dürfen sie ihre Potenziale entfalten.

Präsenz belastet nicht nur das Lehrpersonal. In vielen exponierten Berufsgruppen wie bei Rechtsanwälten, Kundenberaterinnen, Menschen im Verkauf, Krankenschwestern, Ärzten, Polizeibediensteten, Seelsorgerinnen oder Psychologen wird für ein berufliches Weiterkommen Präsenz erwartet. Für sie ist sie die Grundlage, um Aufgaben gelingen zu lassen. Immer wieder fällt mir auf: Insbesondere Menschen mit Personenkontakten scheinen durch die menschlich tief liegenden Bedürfnisse physisch und psychisch präsent zu sein zunehmend belastet.

Auch in meinem letzten Wellness-Aufenthalt begegnete mir das Phänomen der Präsenzvermeidung. Die junge Rezeptionistin begrüsste mich fast schon unsichtbar. Starr wirkte sie, emotionslos und abwesend. Kein Funke Präsenz. Unweigerlich fragte ich mich gleichzeitig ärgerlich als Gast und fürsorglich als Business Coach: «Wie steht es um ihr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen?»

Entfremdung: Ausweg und Zugang für die Karriereentwicklung

Entfremdung beschreibt ein Gefühl der Distanzierung von sich selbst, anderen Menschen oder der Umwelt. Und das erlebte ich dort, wo der Gast offen willkommen geheissen werden möchte. Es fehlte Verbundenheit, wo Anreisende es begrüssen, wenn ihnen Menschen professionell herzlich begegnen. Das stimmte mich nachdenklich. Ich fragte mich: «Was schafft das Vermeiden von Präsenz? Was nutzt Entfremdung?»

In Führungscoachings lerne ich Menschen kennen, die sich vor lauter äusserem Druck fremd erleben und Situationen als unwirklich erfahren. Deswegen gelingt es ihnen nicht mehr, ihre Karriere frei zu gestalten. Fehlende Orientierung, Hoffnungslosigkeit, seelischer Schmerz und existenzielle Ängste sind ihre täglichen Begleiter.

Allgemein wird davon ausgegangen, dass innerliches Weggehen ein negatives Phänomen ist. Jedoch gibt es auch Hinweise, dass es dazu führt, dass Menschen resilient bleiben und über sich hinauswachsen.

Wer als Arbeitgeber zum rechten Zeitpunkt hinschaut, kann Mitarbeitende binden. Claudia Buzelli beschreibt in ihrem Beitrag[1] in HR Today Massnahmen, wie Führungskräfte eine positive Wende zugunsten der Employer Retention bei Entfremdung schaffen. Gibt es in Ihrem Unternehmen keine Reflexion darüber, darf Entfremdung als Einladung an Sie angesehen werden, Neues zu entdecken.

Achten Sie sich selbst in den nächsten Wochen einmal:

  • Wie oft schweifen meine Gedanken bei der Arbeit ab?
  • Wie oft baue ich Luftschlösser und entwickle neue Pläne?
  • Wie oft wünsche ich mich an einen neuen Ort?

Wenn Ihnen diese Phänomene öfters als es Ihnen recht ist begegnen, seien Sie getrost:

  • Wenn es in Ihrem Unternehmen niemanden gibt, der sich um die emotionale Bindung an Ihre Organisation kümmert, vernachlässigt sie einen wesentlichen Faktor der Mitarbeiterbindung, das «affektive Commitment». Entfremden Sie mutig weiter.
  • Wenn Sie das Gefühl haben, sie müssten in Ihrer Firma bleiben, weil Sie keine andere Anstellung finden, dann reflektieren Sie das «kalkulatorische Commitment». Rechnen Sie unzählige bessere Optionen – auch unwahrscheinliche – und tauschen Sie sich mit Unbeteiligten aus. Der Arbeitsmarkt ist günstiger als oft gemeint.
  • Und wenn Sie sich verpflichtet fühlen, an Ihrem Ort zu bleiben, dann wägen Sie Ihr «normatives Commitment» ab. Sie sind Erwachsen und können Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen.

Nutzen Sie Ihre Entfremdungsmomente bewusst für Ihre Karrieregestaltung; denn in der Phantasie liegt ungeahntes Potenzial. Karriere gestalten bedeutet, seinen Lebensweg aktiv zu gehen und zu üben, im Hier und Jetzt da und in Beziehungen ganz Mensch zu sein.

Egal, wo Sie sich hin wünschen und Ihren Berufsweg entwickeln. Eines dürfen Sie sich gewiss sein: Sie sind ein wertvolles Präsent. Für sich und andere.

[1] Zugang mit einer Membership

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert