Die Digitalisierung schafft Gewinner und Verlierer. Change-Manager zählen – zumindest aus kurz- und mittelfristiger Perspektive – zu den Gewinnern im Berufsroulette.
Veränderungen und deren Gestaltung haben uns schon immer fasziniert, schliesslich wird Wandel mit Lernen und Wachstum assoziiert. Mit dem zunehmenden Interesse an Organisationen und Teams ab 1930 fand die Stabsübergabe der Philosophen und Psychologen an die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler statt. Die Organisationsentwicklung war geboren und damit wurde auch der Grundstein gelegt für die noch relativ junge Disziplin des Change-Managements.
Während die Gutmenschen der Organisationsentwicklung noch den Menschen und seine Entfaltung ins Zentrum der Veränderung stellten, hat sich der Wind im digitalen Zeitalter gedreht.
«Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt», ist der Leitspruch des Change-Managements – wobei die Gewalt perfiderweise gut getarnt in Form von Visions-Workshops, Spurgruppen, Lunch-Veranstaltungen, Enterprise Social Networking-Foren und Multi-Space-Büros daherkommt.
Feindbild Roboter
Und was machen wir mit denjenigen, die in der Komfortzone ausharren, bis der Hype um die Digitalisierung – oder vielleicht ja sogar die Digitalisierung selber – vorbeigezogen ist? Das Drohen mit der brennenden Plattform ist inzwischen etwas ausser Mode gekommen.
Aber das nächste Feindbild, der Roboter, der den nicht Agilen den Job klaut, das funktioniert immer noch ganz ordentlich. Vor allem, wenn man darauf hinweist, dass die Veränderungen mit exponentieller Geschwindigkeit stattfinden (die Metapher mit dem über Nacht zuwachsenden Seerosenteich – die versteht jeder) und somit Widerstand zwecklos ist, bzw. die Evakuierung aus dem analogen Zeitalter JETZT beginnt.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich unbestritten mitten in einer tiefgreifenden Umbruchphase. Ob wir sie nun die vierte industrielle Revolution, die digitale Transformation, den sechsten Kondratjew-Zyklus oder Arbeit 4.0 nennen, spielt keine Rolle. Ich hinterfrage genauso wenig, ob es Sinn macht, diese Veränderungen aktiv zu gestalten.
Meine Kritik richtet sich gegen unser Verständnis von «Change-Management». Eine Disziplin, die vor lauter Angst vor destruktiven Widerständen mit ihren gut gemeinten Ansätzen zu deren Bekämpfung gerade ihren letzten Rest an Glaubwürdigkeit verspielt.
Wo Change-Management ansetzen soll
Doch wie sollte ein moderneres Verständnis von Change-Management aussehen? Die Formel «VUCA» (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) fasst die wichtigsten Phänomene der laufenden Transformation zusammen. Und genau bei diesen Prämissen muss auch ein modernes Change-Management ansetzen. Konkret:
- Volatilität: Je höher die Geschwindigkeit einer Veränderung ist, desto mehr macht es Sinn, sich mit inkrementellen Lernzyklen vorzutasten.
- Ungewissheit: Je weniger wir über eine Situation wissen, desto wichtiger sind Transparenz, Orientierung, Kommunikation und Vertrauen.
- Komplexität: Je mehr Faktoren wir in einer Entscheidungssituation berücksichtigen müssen, desto wichtiger ist es, aus möglichst vielen Perspektiven auf ein Thema zu schauen; Vernetzung, Partizipation und Diversität gewinnen an Bedeutung.
- Mehrdeutigkeit: Unklaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen kann am besten mit Experimenten und Prototyping begegnet werden.
Die dem Change-Management zugrundeliegende Vorstellung, dass einige wenige darüber entscheiden können, wie wir vom Ausgangszustand A mittels nett gemeinten Bevormundungs- und Bespassungsmassnahmen – fein säuberlich gegliedert in unterschiedliche Phasen – zum Zielzustand B kommen, passt vor diesem Hintergrund definitiv nicht mehr. Meine Kritik basiert auf folgenden Erkenntnissen:
Unklares Ziel
Bei komplexeren Veränderungen kennen wir den Zielzustand B gar nicht – er muss zuerst definiert werden. Je mehr Menschen mit unterschiedlichen Haltungen, Erfahrungen, Funktionsstufen und Tätigkeitsbereichen bei der Definition des Zielzustandes B mitarbeiten, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Veränderungsprozesses.
Zum einen, weil Vertreter mit unterschiedlichem Hintergrund gemeinsam ein akkurateres Zielbild entwerfen können. Zum anderen, weil der Miteinbezug der Mitarbeiter die beste Prävention gegen Widerstand ist und somit das Erreichen des gemeinsam definierten Ziels realistischer ist.
Unklare Ausganglage
Oft kennen wir weder den Zielzustand B, noch haben wir ein klares Bild der Ausgangslage A – ein Grund mehr für ein partizipatives Vorgehen von Anfang an.
Unterschiedliche Bedürfnisse respektieren
Die meisten Change-Management-Modelle bestechen durch ihre Einfachheit – sie gestalten die komplizierte Transformation in unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Zwischenzielen.
Mein «Favorit» ist die Phase «Desire» im ADKAR Modell, die Begeisterung per Knopfdruck suggeriert. Unabhängig vom genauen Sinn und Unsinn der einzelnen Phasen sind diese im Sinne einer Landkarte gar nicht schlecht. Sie dienen dem Projektteam als Orientierungshilfe, damit alle Beteiligten vom Gleichen sprechen und ungefähr wissen, wo sie stehen.
Was jedoch naiv ist, ist die Vorstellung, dass auch die involvierten Mitarbeiter simultan von Phase zu Phase wechseln, mit der Präzision einer Wasserballettgruppe. Für viele ist der Umzug in ein neues Büro erst am Tag davor ein Thema – andere möchten schon ein Jahr zuvor wissen, wie das neue Konzept aussieht.
Auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse muss ein Change-Programm Rücksicht nehmen. Nicht nur, was das Angebot betrifft, sondern auch das Ausmass der Mitgestaltung, was mich auch zum nächsten Punkt führt.
Partizipation funktioniert nur mit Freiwilligkeit
Es gibt ganz viele Mitarbeiter, die weder mitgestalten noch mitbestimmen wollen – ohne dass sie deswegen weniger motiviert oder engagiert wären.
Deshalb muss Partizipation zum einen freiwillig sein, zum anderen müssen die Verantwortlichen das Change-Management-Programm wie eine «Rampe» (Anlehnung an Ruf/Gallin) aufbauen, wo jeder so hoch hinaufgehen kann und die Intensität der Auseinandersetzung mit der Veränderung so wählen kann, wie es seinen Bedürfnissen entspricht.
Dieser Faktor ist deshalb wichtig, weil oft nicht die Veränderung selbst den Widerstand verursacht, sondern durch die manchmal gar kindlichen Massnahmen des Change-Managements.
Die Umsetzung ist nur der Anfang
Die spannendste Phase im Veränderungsprozess ist interessanterweise genau diejenige, welche die Change-Management-Theorie am stiefmütterlichsten adressiert: Die Phase nach der Umsetzung einer Veränderung, etwa nach dem Bezug eines neuen Büros.
Namen wie «Reinforcement» oder «Verankerung» bringen zum Ausdruck, dass es in dieser Phase um den möglichst schnellen und liniengetreuen Abschluss der Veränderung geht. Sie ist deshalb oft die kürzeste und nur mit knappen Ressourcen versehen.
Dabei spielt genau in dieser Phase die Musik – wenn alle die Auswirkungen einer Veränderung spüren und interpretieren können. Diese Erkenntnis ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen machen viele Massnahmen, bei denen es um das Aushandeln und Gestalten des Neuen geht, erst in dieser Phase Sinn. Zum anderen birgt diese Phase aus der Sicht der Zusammenarbeit die Gefahr der «Entsolidarisierung» und Entkopplung – weil jeder die Veränderungen für sich individuell interpretiert und darauf reagiert. Dies führt zu einer Optimierung des individuellen Verhaltens, selten aber einfach so zu einer besseren Zusammenarbeit im Team.
Agilität braucht Stabilität
Im Zeitalter der Agilität und der lernenden Organisationen ist es «en vogue», die Stabilität zu verteufeln – als bremsendes und lähmendes Element. Wie Prof. Dr. Peter Kruse sehr eindrücklich aufgezeigt hat, geht es bei Agilität primär um die Bereitschaft, von einem System ins andere zu wechseln und nicht darum, ein System der konstanten Unruhe zu schaffen. Es ist deshalb wichtig, den erfolgreichen Abschluss eines Meilensteins oder Projekts zu kommunizieren und zelebrieren.
Wunderwaffe Zuhören
Die erfolgreichste Bekämpfung von Widerstand ist simpel: zuhören und die Anliegen ernst nehmen. Widerstände entstehen nicht nur aus Trägheit und grundsätzlicher Ablehnung, sondern oft, weil Menschen Dinge, die sie lieben, schützen wollen.
Die Auseinandersetzung mit den Widerständen bietet daher die Chance, zu identifizieren, welche Elemente der Vergangenheit unbedingt in die neue Welt «gerettet» werden sollen. Ein kleiner Teil der Widerstände sind Reaktionen auf Fehler und Unsicherheiten – sie sollten daher nicht bekämpft, sondern im Sinne eines Frühwarnsystems und engen Feedback-Prozesses laufend integriert werden.
Bedürfnisse kennen und kommunizieren
Eine stärkere Form von Zuhören ist gezielt zu fragen – zum Beispiel, indem man die Teilnehmer eines Veränderungsprojekts auffordert, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Dabei geht es nicht primär um das «Abholen» der Beteiligten, sondern viel mehr darum, dass diese sich überhaupt Gedanken über ihre persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen machen.
In einem «Work Journal» (das natürlich nicht offengelegt werden muss) könnten beispielsweise die folgenden Fragen gestellt werden:
- «Wie gross ist dein Bedürfnis, Arbeit und Freizeit abzugrenzen?
- Mit welchen Taktiken stellst du sicher, dass du diesem Bedürfnis nachkommen kannst? Wie reagiert dein Umfeld auf diese Taktiken?
- Zu welcher Zeit bist du am produktivsten? Zu welcher am kreativsten? Wann ist die beste Zeit, um Routinearbeiten zu erledigen? Zu welcher Zeit machst du am liebsten Sport?
- Welcher Raum ist ideal für welche Aufgabe?
- Wo profitierst du von Flexibilität deiner Organisation? Wo profitiert die Organisation von deiner Flexibilität? Ist dieses Verhältnis im Gleichgewicht?
Oft führt schon das Beobachten und Thematisieren zu einer Veränderung des Verhaltens – ohne dass künstliche Aufträge verteilt werden müssen.
Übergänge gezielt nutzen
Sehr oft setzt sich das Change-Management-Team das Ziel, den Übergang vom alten zum neuen System komplett naht- und reibungslos zu gestalten. Dabei bieten genau die Übergangsphasen eine wunderbare Lebendigkeit, die mithilft, den Sprung vom alten zum neuen System zu schaffen. Dies deshalb, weil die Beteiligten auf natürliche Weise dazu eingeladen werden, ihre Annahmen zu überdenken und mit neuen Verhaltensmustern zu experimentieren.
Die Öffnung und Offenheit während dieser Phase ist ein mindestens so wirkungsvoller Veränderungshelfer wie viele teure Change-Management-Massnahmen. Deshalb gilt: Bitte geschüttelt und nicht geführt!
Die Energie positiv nutzen
Die geschilderten Erkenntnisse zeigen, dass es Zeit ist für einen Paradigmenwechsel, was unsere Vorstellung von Change-Management betrifft. Denn oft ist die Ursache von massiven Widerständen nicht die Veränderung selber, sondern die Massnahmen zur Begleitung der Veränderungssituation.
Manchmal stehen sie gar in diametralem Widerspruch zum Ziel selber – wie sollen eine agilere Arbeitskultur und mehr Autonomie erreicht werden, wenn das Change Programm jeden Funken an Freiraum und Selbstbestimmung erstickt?
Damit wir das Wettrüsten zwischen Change Massnahmen (Sicht Organisation) und entgegengebrachten Widerständen (Sicht Mitarbeiter) stoppen können, braucht es beide Seiten. Firmen, die ehrlich über Veränderungen kommunizieren und die Mitarbeiter richtig involvieren (Partizipation geht über die Wahl der Kaffeemaschine und der Teebeutel hinaus) und Mitarbeiter, die ihre Anliegen konstruktiv einbringen und Verantwortung für das Neue übernehmen (per Arztzeugnis für einen Stehtisch zu kämpfen, zählt nicht dazu), statt in Passivität und Resignation zu versinken.
Veränderung bieten uns die einmalige Chance, aus alten Mustern auszubrechen und durch Verhandeln auf Augenhöhe zu einer Situation zu kommen, die für alle Beteiligten besser ist. Veränderungen halten uns gleichzeitig auch lebendig und ermöglichen uns kontinuierliches Wachstum.
Um es mit den Worten von Hermann Hesse (Stufen, 1941) zu sagen: «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.» Change-Manager müssen nicht zaubern können – aber sie müssen den Zauber des Neubeginns beschützen.
Sehr gut beschrieben. Danke, Michaela Feser
Genau, Change soll mit einer positiven Verpackungsschleife ausgestattet werden, so das Mitarbeitende Lust haben, das Paket zu öffnen. Es ist Aufgabe der Führung, den Inhalt des Pakets interessant zu gestalten. Am besten denkt man sich spielerische Begleit-Aktivitäten aus. Und ebenso muss man nicht annehmen, dass man immer alle überzeugt mitnehmen kann.
Hervorragendene Lektüre! Gratulation und herzlichen Dank, Sabine Biland-Weckherlin