Jeder und jede Bewerbende hat einen fairen Bewerbungsprozess verdient. Und dass dieser erste Kontakt bleibende Eindrücke hinterlässt, scheint auch Arbeitgebenden klar zu sein. Schliesslich sind Schlagworte wie Candidate Experience und Candidate Journey seit Jahren in aller Munde. Wie gut die Umsetzung in der Praxis gelingt, ist unterschiedlich. Zwei Erfahrungsberichte.
Jeder Bewerbungsprozess ist in sich ein Abenteuer und eine Reise. Unabhängig davon, ob es zu einer Anstellung kommt oder nicht, sollten Bewerbende grundsätzlich eine humane Ausgestaltung des Bewerbungs-Parcours erwarten dürfen – egal, ob es um eine Top-Level- oder um eine Praktikumsstelle geht. Wenn das Prozedere (wie das so oft der Fall ist) einem Marathon oder einem Orientierungslauf gleicht, für den Kandidatinnen und Kandidaten einen langen Atem brauchen, kommt den Erlebnissen an den einzelnen «Posten» eine umso grössere Bedeutung zu.
Die Gesamtheit der Erfahrungen während eines Bewerbungsprozesses nennt sich in der Fachsprache Candidate Experience oder Candidate Journey – und ist in aller Munde. Denn natürlich soll die Erfahrung von Bewerbenden durchwegs positiv ausfallen – idealerweise ist jeder Kontaktpunkt mit dem potenziellen künftigen Arbeitgeber ein kleines Highlight. Soweit die Theorie.
In der Praxis sieht es jeweils etwas anders aus. Durch Zufall haben sich in meinem persönlichen Umfeld zwei Beispiele ereignet, die sich perfekt für den Anschauungsunterricht eignen. Einmal negativ, einmal positiv.
So bitte nicht: Chronologie einer missglückten Candidate Experience
Im Mai 2021 hat sich ein junger Bekannter für ein sechsmonatiges Studierenden-Praktikum bei einem Grosskonzern beworben.
- 7. Mai: Versand der schriftlichen Bewerbung und Erhalt der Empfangsbestätigung.
- 21. Mai: Einladung für ein Vorstellungsgespräch.
- 31. Mai: Online-Interview mit Ankündigung einer Antwort durch das HR bis Mitte Juni.
- 16. Juni: Mündliche Nachfrage zum Stand der Dinge und gleichentags Antwort des Linienchefs, dass man der Sache nachgehen und sich melden werde.
- 21. Juni: Schriftliche Nachfrage meines Bekannten zum weiteren Vorgehen und dem Stand der Bewerbung. Er muss noch bei einem anderen zeitgleichen Praktikum zu- oder absagen, möchte aber gerne den Bescheid zu seiner Wunschstelle im Konzern abwarten.
- 28. Juni: Die konzerninterne Kontaktperson will sich bei der Linie schlau machen. Ohne Erfolg.
- 1. Juli: Dieselbe Kontaktperson versucht ihr Glück beim HR. Ohne Erfolg. Stattdessen erfolgt die Meldung, dass der zuständige Linienmanager schon mal eine ähnliche, «schaurig schräge» Erfahrung mit dem HR gemacht habe.
- 2. Juli: Nach mehrfachem Nachfragen der Kontaktperson versichert ihr das HR, sich der Sache anzunehmen und abzuklären, worauf die zeitliche Verzögerung zurückzuführen sei.
- 5. Juli: Absage per E-Mail durch den Linienmanager. Es tue ihm «aufrichtig leid», dass mein Bekannter keine Antwort erhalten habe. Sie hätten sich für jemand anderen entschieden. Dies habe nichts damit zu tun, dass er ungeeignet wäre. Leider habe es noch andere Personen gegeben, welche ein noch passenderes Profil hatten. Weil der Kandidat einen positiven Eindruck hinterlassen habe, würde er ihm anbieten, den CV aufzubewahren. Er verstehe aber, wenn er nach diesem ersten schlechten Eindruck kein Interesse mehr daran habe.
Natürlich ist das Interesse meines Bekannten an diesem Arbeitgeber komplett erloschen. Und nicht nur das: Das derart dilettantische Vorgehen seitens eines renommierten Grosskonzerns hat auch im erweiterten Umfeld für Kopfschütteln gesorgt. Ein Armutszeugnis für die Firma als Ganzes und im Besonderen für die Linie, die HR-Abteilung und deren interne Kommunikation.
Es geht auch anders: Chronologie einer geglückten Candidate Experience
Kurz darauf berichtete mir eine langjährige Bekannte begeistert von ihrer neuen Stelle und von der hervorragenden Bewerbungs-Erfahrung. Sie hatte sich bei einem KMU für eine Position als Senior Marketing Manager beworben. So lief der Bewerbungsprozess ab:
- 5. Mai: Einreichung der Bewerbung und gleichentags Erhalt der Empfangsbestätigung.
- 26. Mai: Nachfrage beim HR bezüglich Stand der Dinge.
- 28. Mai: Erhalt eines allgemein gehaltenen E-Mails zum Stand des Bewerbungsprozesses.
- 1. Juni: E-Mail meiner Bekannten an die potenzielle Chefin, deren Namen und Kontaktdaten sie im Internet recherchiert hatte.
- 2. Juni: E-Mail-Absage durch die potenzielle Chefin mit einem Kompliment für das kreative Vorgehen meiner Bekannten und einem Angebot für einen telefonischen Austausch
- 8. Juni: Telefongespräch mit der potenziellen Chefin. Information, dass es intern noch eine andere spannende Stelle gebe, die zur Kandidatin passen könnte.
- 9. Juni: Interessenskundgebung meiner Bekannten per E-Mail und Antwort der Chefin, dass sie die Bewerbungsunterlagen intern weitergeleitet habe. Gleichentags E-Mail der neuen potenziellen Chefin mit Interviewtermin.
- 22. Juni: Erstes Online-Interview mit Zielklärung des Gesprächs und am Schluss Vereinbarung des gegenseitigen Austausches drei Tage später.
- 25. Juni: Die potenzielle Chefin ruft, wie vereinbart, an – das gegenseitige Feedback ist positiv.
- 5. Juli: Zweiter Interviewtermin vor Ort mit Case-Präsentation (aus Rücksicht auf die Ferienabwesenheit meiner Bekannten nach hinten verschoben).
- 6. Juli: Telefonisches Feedback – positiv von beiden Seiten.
- 6./7. Juli: Online-Assessment.
- 8. Juli: Online-Interview mit potenzieller Chefin und HR und gleichentags mündliche Zusage und Versand des Vertrags.
Im Vergleich zum Fall des Studenten, dessen Bewerbung über zwei Monate hinweg verschleppt wurde, erhielt meine Bekannte innerhalb des gleichen Zeitrahmens die Stellenzusage – notabene trotz einiger Hürden, vor allem der anfänglichen Zeitverzögerung und Absage. Dass die erste Linienperson trotzdem weitergedacht und das Dossier intern weitergleitet hat, empfand die Kandidatin als so positiv, dass es die Geduldsprobe der ersten drei Wochen in den Hintergrund rückte. Ebenso geschätzt hat sie die Tatsache, dass die Ziele des jeweiligen Gesprächs und das weitere Vorgehen klar und verbindlich kommuniziert wurden. Somit wusste sie jederzeit, woran sie war.
Positive Erlebnisse gehören an die grosse Glocke
Wir wissen alle: Schlechte Nachrichten verbreiten sich x-fach schneller als positive. Das ist bedauerlich. Denn ein solch vernetztes, kreatives Denken und effizientes Handeln über den «Tellerrand» der eigenen Abteilung hinaus, wie im KMU gehören an die grosse Glocke, in jeden HR-Lehrgang und als Wegleitung an die Pinnwand jeder Personalabteilung. Dass es hie und da zu Verzögerungen kommt, ist zu verkraften, wenn der nachfolgende Rekrutierungsprozess zügig, transparent und fair abläuft.
Beide Erlebnisse erlauben unmissverständliche Rückschlüsse auf die jeweilig vorherrschende Unternehmenskultur und das Leitbild. Sie sagen mehr aus als jede Hochglanz-Firmenbroschüre und jede noch so professionelle Employer-Branding-Webseite.
Um diesen Blog mit einem positiven Ausklang zu beenden, hoffe ich auf viele weitere Beispiele, wo Unternehmen so beherzt handeln und vernetzt denken wie das KMU. Ihm sei zu einer tollen neuen Mitarbeiterin gratuliert, während der Grosskonzern nicht nur einen motivierten jungen Studenten verloren hat, sondern auch Sympathie und Vertrauen von Aussenstehenden.
Sehr geehrte Frau Biland-Weckherlin
Recruiting sollten wir als einen speziellen Teil vom HR betrachten, wobei der Prozess wirklich stimmen muss.
Wenn es dann schlecht funktioniert wie im ersten Fall, dann ist das Employer Branding hier im Eimer, d.h. dieser Kandidat wird sich wohl nie mehr bei diesem Konzern bewerben.
Der zweite Fall ist natürlich klar. Auch in meinem Umfeld mit Lehrstellensuche ist das professionelle Recruiting wichtig. Eine 15-Jahre alten Person sieht auch das als kritisch, d.h. wie werde ich behandelt…ein kritischer Faktor.
Da happert es wirklich noch an vielen Orten bei Grossfirmen.
Das ist dann wieder zum Vorteil vom KMU, welcher hier agiler und authentischer zur Sache gehen kann.
Grüessli
Urs
Hallo Urs – sage ich jetzt einfach mal! Danke Dir für Deinen Beitrag und die Ergänzung um Deine Erfahrung mit Lernenden. Der Umgang mit ganz jungen Menschen sollte ganz besonders sorgsam verlaufen – das Vertrauen in die Firmenwelt wird sonst auf unnötige Weise nachhaltig gestört. Verheerend! Liebe Grüsse, Sabine
Liebe Sabine
Einmal mehr gefällt mir Deine klare, direkte und frische Art Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich glaube dieser Prozess hat noch ganz viel Potential in vielen Unternehmen. Danke! – Christoph
Lieber Christoph
Merci für Dein zustimmendes Votum! Es liegt in der Tat enorm viel brach an ungenutztem Potential – dabei wäre es doch keine Hexerei, einen sauberen Rekrutierungsprozess abzuwickeln, finde ich! Pfusch lässt ungute Rückschlüsse auf die gelebte Qualität im jeweiligen Unternehmen zu. Sabine