Mein Abstecher in die «neue Arbeitswelt» war lehrreich und faszinierend. Aber was genau hat sich wirklich verändert?
«Warten Sie doch kurz am Traffic Point 2 bei der Pinnwand.» Ich bin leicht irritiert. Die Firma bekenne sich zum Fortschritt, die neuesten Erkenntnisse aus der Arbeitswelt seien in die Gestaltung der Büroräumlichkeiten eingeflossen. Die gelebte Unternehmenskultur sei den zeitlichen Gegebenheiten angepasst worden. Wörtlich habe ich diese Zeilen von der Webseite noch im Kopf.
Und tatsächlich herrscht emsiges Treiben. Ich verschiebe mich mal in diese, mal in die andere Ecke, um den Traffic nicht zu gefährden. Ich lausche einen Moment den vielfältigen Stimmen. In einer Ecke werden Entwürfe diskutiert, an einem Stehpult beisst ein junger Mann herzhaft in ein Käsesandwich. Eine Dartscheibe hängt an der Wand. Im Aquarium neben dem braungelben Sofa nuckeln Goldfische an der Glasscheibe.
Das Ganze erinnert tatsächlich an eine Art stark frequentierte Wohnstube mit überdurchschnittlichem Lärmpegel. Dann fällt mein Blick auf die mit internen Seminarangeboten überklebte Pinnwand.
«Umgang mit Generationen», sticht mir ins Auge. Ein kurzer Beschrieb gibt Aufschluss über den Umgang mit den Generationen X, Y, Z – und: mit den Babyboomern. Wie man diese ermutigt, starre Strukturen zu verlassen, sie motivierend von ihren Ängsten wegführt. Autsch, damit bin ja ich gemeint. Tatsächlich sucht mein Auge gerade vergeblich nach sichtbaren Konturen. Die neue Arbeitswelt und ich, der Rückständige vollständig verloren darin.
Ein anderes Seminar wirbt für Mobbing. Nein, natürlich nicht dafür, es zu praktizieren, sondern die Veranstaltung zu besuchen. «Muss offensichtlich ein Thema sein», denke ich mir. «Warum sonst dieser farbige, auffällige Prospekt?»
«So verhindern sie Burnout» – allerdings nur ein Schnupperangebot. Natürlich, solche Vorträge sind heute Bestandteil eben dieser neuen Arbeitswelt. Erneut muss ich meinen Standort für einen kurzen Moment verändern, will ich nicht vom Kurier mit seinem Trolley überrollt werden.
Nur einen Augenblick später werde ich erneut fündig. «Umgang mit dem anderen Geschlecht – ein Wegweiser für alle». Das hört sich toll an. Gemeinsam mit der Geschäftsleitung werden Themen diskutiert. Ich bin einen Moment erleichtert, dass ich der Empfangsdame kein Kompliment für ihr elegantes Kleid gemacht hatte. Anderseits könnte es nicht schaden, dass sich Männlein und Weiblein mindestens auf diese Weise wieder etwas annähern. Wie erwähnt ich bin Babyboomer und da kann es doch zu komischen Situationen führen, wenn man sich zum Beispiel mit einer X-, Y- oder Z-Dame zum gemeinsamen Essen verabredet. Ich erinnere mich an letzte Woche, als sie sich am Tisch vom Stuhl erhob, um sich kurz zu entschuldigen, stand ich aus Höflichkeit ebenfalls auf, was die Dame mit einem erstaunten «Möchten Sie mitkommen?» kommentierte.
Meine Spannung steigt, denn mein potenzieller Kunde möchte mit mir gemeinsam ein neues Seminar entwickeln. Ein junger Herr holt mich ab. Zügigen Schrittes durchqueren wir eine mit durchsichtigen Materialien ausgekleidete Brücke und gelangen in ein anderes Gebäude. Auf einem Bildschirm flackert ein Reminder: «Heute schon genug getrunken?»
Zwei junge Damen mit Rucksack und ihrem offensichtlich flexiblen Arbeitsplatz in Form eines Rollwagens halten Ausschau nach einem freien Schreibtisch. Jene mit Blick auf den See sind zwar nicht besetzt, aber belegt. Es ist tatsächlich vieles anders, als ich es aus meiner Zeit kenne.
Wenig später die Sitzung. Toll hätten sie es hier, flache Hierarchien, variable Arbeitszeiten und innovativer Unternehmensgeist präge das Klima, werde ich informiert. Ist das wirklich alles so neu? Ich höre zu, versuche herauszufinden, was sich in den zwischenmenschlichen Themen in den letzten Jahrzehnten verändert haben soll. Seltsamerweise kommt mir alles sehr vertraut vor.
Übrigens: Den Auftrag habe ich erhalten. Der Flyer mit dem Titel «Umgang mit herausfordernden Mitarbeitenden» wird in einigen Tagen an der Pinnwand am Traffic Point 2 zu sehen sein. Ich bin positiv überrascht. Ein vor Jahren von mir entwickeltes Konzept liegt noch in meiner Schreibtischschublade. Schön, ein altes Thema in einer neuen Arbeitswelt wiederzufinden …