Vor 40 Jahren prägte der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann den Begriff «New Work» und plädierte für eine Arbeitswelt, die den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum stellt. Während diese mutige Vision damals dringend notwendig war, steht ihre einseitige Auslegung heute vielen Transformationen im Weg.
Wir stehen an einem bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeit. Die meisten Schlagzeilen, die wir zu New Work lesen, sind auf eine fundamentale Machtverschiebung zurückzuführen: vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt. Das ist eine gute Entwicklung für alle, die sich wünschen, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht umgekehrt.
Trotzdem mache ich mir im Hinblick auf die aktuelle Stimmung in vielen Organisationen Sorgen. Statt der erhofften gesunden Balance zwischen Geben und Nehmen von Flexibilität, zeichnen sich verhärtete Fronten und wachsende Gräben ab. War kurz nach dem Lockdown viel gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen spürbar, so hat sich der Wind inzwischen gedreht. Selbst Führungsgremien mit einer sehr liberalen Grundeinstellung sind verunsichert und wünschen sich die alten Zeiten zurück, in der sie sich nicht für einen Präsenztermin rechtfertigen mussten. Viele beschleicht das Gefühl, dass sie immer mehr geben und immer weniger bekommen.
Ich habe viel über diese Pattsituation nachgedacht, weil wir gerade dabei sind, ein grosses Chancenfenster ungenutzt verstreichen zu lassen. Es wäre jetzt sehr einfach zum Schluss zu kommen, dass die Arbeitnehmenden die neu gewonnenen Freiheiten zu egoistisch aufs Spiel setzen und wir folglich unsere romantische Vorstellung vom eigenverantwortlichen, mündigen Arbeitnehmer getrost begraben dürfen.
Meine Erkenntnis geht in eine andere Richtung. Während Frithjof Bergmann und seine Anhänger mit der New Work-Bewegung eine klare Vision für die Perspektive der Mitarbeitenden skizzierten, fehlt die Perspektive der Organisation komplett. Konkret: wie kann die Transformation der Arbeitswelt nicht nur die Mitarbeitenden besserstellen, sondern zugleich auch Mehrwerte für Unternehmen und deren Anspruchsgruppen schaffen?
Denn nur wenn beide Seiten – Individuen und Organisationen – wissen, wofür sie sich stark machen wollen, können sie Synergien schaffen und Mehrwerte aushandeln. Die momentan sehr einseitige Auslegung von New Work führt dazu, dass es in vielen Organisationen nicht nur zum Stillstand, sondern im schlimmsten Fall zur Resignation kommt.
Zur Lösung der Pattsituation sind beide Seiten gefordert. Es braucht Mitarbeitende, die sich nicht nur überlegen, was sie einfordern, sondern auch was sie zum gemeinsamen Erfolg beitragen können und wo sie bereit sind, zum Wohl des Kollektivs Kompromisse einzugehen. Oder wie es die selbstorganisierte Digitalagentur Liip sehr treffend formuliert hat: «we over me». Und es braucht Entscheidungsträger in Organisationen, die die laufende Transformation in der Arbeitswelt vorausschauend und verantwortungsvoll gestalten. Erst wenn die Vision von New Work sowohl die Perspektive der Mitarbeitenden als auch der Organisation und ihrer Anspruchsgruppen miteinschliesst, werden sich nachhaltige Veränderungen realisieren lassen, die von allen Beteiligten getragen werden.
Ich frage mich: Woran liegt es, dass Mitarbeiter:innen zu stark auf sich selbst und ihr eigenes Wohlergehen fokussieren? Allenfalls an der mangelnden Identifikation mit der Arbeitgeberin? An einem zu wenig vorhandenen „Wir-Gefühl“? Aus meiner Sicht ist der Mehrwert für Unternehmen mit New Work durchaus gegeben, denn zufriedene Mitarbeiter:innen führen zu zufriedenen Kund:innen. Und das beeinflusst wiederum den Unternehmenserfolg positiv (Service Profit Chain). Allenfalls ist aber gerade diese Wirkungskette etwas, was im New Work Kontext noch zu wenig thematisiert wird.