«Meine Erfahrung ist durchwegs positiv, Talententwicklung Bottom-up umzusetzen»

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Armin Ziesemer KarriereAls Co-Podcaster von «Mit Brille und Bart» lerne ich immer wieder spannende Menschen und ihre Expertise kennen. Susanne Jung beschreibt sich selbst als optimistische Überzeugungstäterin im HR. Mit über 20 Jahren internationaler HR-Erfahrung ist sie eine inspirierende Dialogpartnerin – insbesondere, wenn es um die selbstbestimmte Karriereentwicklung geht.

Für diesen Blog-Beitrag habe ich ihr fünf Fragen gestellt:

Armin Ziesemer (zia): Welche Notwendigkeiten sehen Sie in der selbstbestimmten Führungskräfteentwicklung von jungen Menschen?

Susanne Jung (jus): Talente fallen nicht wie Obst vom Himmel. Der Fachkräftemangel führt dazu, dass überall und allerorts Nachfolgen gesucht werden. Sie müssen früh identifiziert und individuell begleitet werden. Was bislang mit strenger Haltung Top-down verfolgt wurde, sucht nach Umkehrung. Meine Erfahrung ist durchwegs positiv, Talententwicklung Bottom-up umzusetzen.

Ich setze auf Prozesse, die es ermöglichen, dass sich Talente selbst auf Nachfolgepositionen bewerben und darüber entscheiden, welche Peer-Referenz sie angeben, um das eigene Potenzial empfehlen zu lassen.

zia: Was benötigen junge Menschen für den Wandel der Arbeitswelt, um sich entfalten zu können?

jus: Nach wie vor wird bei der Auswahl an Talenten der Ausbildungshintergrund stärker gewichtet als Motivation und Persönlichkeit. Hier braucht es einen ersten Perspektivenwechsel: Nach der Identifizierung unterstützt eine 6-12-monatige, achtsame Mentoring- oder Orientierungsphase dabei, eine optionale Neupositionierung des Talents mit allen Konsequenzen, Anforderungen und Entwicklungsbedarfe zu klären.

In dieser Phase lernt das Talent, wie auch die Organisation – sprich das zukünftige Team – den Perspektivenwechsel. Das Talent erkennt, welche Arbeitsweisen und fachliche Kenntnisse zum bisherigen Erfolg im neuen Arbeitsumfeld beigetragen haben. Ein Entwicklungsplan wird eng mit dem Talent abgestimmt. Während dieser Zeit erkennen die jungen Potenzialträgerinnen und Potenzialträger, welche Chancen und auch Herausforderungen die neue Position ans eigene Leben mitbringt.

Der Rekrutierungsprozess braucht an dieser Stelle ein verbindliches «Ja» oder «Nein» von beiden Seiten. Das neue Arbeitsteam reflektiert anhand der Motivation und der Neugierde des Talents, was die eigene Wertschöpfung wirklich definiert und ob die bestehenden Arbeitsabläufe sie in ihrem Vorwärtskommen optimal unterstützen. Nicht selten werden in dieser Phase «blinde Flecken» erkannt.

Die Währung dieses Prozesses ist Vertrauen. Meine Erfahrung zeigt, dass Persönlichkeitsmerkmale erfolgsentscheidend und so unabhängig des bisherigen Ausbildungshintergrunds viele berufliche Laufbahnen möglich sind. Das trifft umso mehr auf Organisationen zu, die bereits in ihre Digitalisierung einbezahlt und in ein hohes Mass an Transparenz für betrieblichen Wissenstransfer investiert haben.

zia: Konventionelle Beförderungsverfahren setzen auf eine Selektion etablierter Führungskräfte und Opinion Leader. Weshalb braucht es eine Änderung zur selbstbestimmten Karriereentwicklung?

jus: Aus meiner Sicht gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens werden Zusammenhänge und notwendiges Talent zur Bewältigung täglicher Arbeit von den Mitarbeitenden besser selbst beurteilt.

Wir erleben in den Betrieben eine rasante Veränderung von Berufsbildern. Aufgaben können schon lange nur abteilungsübergreifend und projektartig erledigt werden und betriebliche Kernprozesse laufen end-to-end über etliche Schnittstellen.

Berufsbilder sind in den Unternehmen miteinander verzahnt und somit auch das betriebliche Know How, da braucht es kein Management, das meint, etwas besser zu wissen.

Zum Zweiten gehört das Phänomen «Talent» in den Betrieb eingebunden. Sich als Talent selbst zu positionieren, kitzelt bereits notwendige Führungseigenschaften heraus. Teammitglieder oder auch Kunden als Empfehlungsgebende für sich zu gewinnen, zeugt von notwendiger Vernetztheit im Unternehmen und beugt Neid vor. Das fördert eine Kultur, die auf Kooperation und Beziehungsaufbau setzt, als auf Seilschaften und konkurrenzierendes Ellbogenverhalten.

zia: Welche Nutzen ergeben sich aus der Entwicklung von Rekrutierungsprozessen aus einem Topdown-Verfahren hin zu einer selbstbestimmten Talententwicklung aus der Mitte der Organisation hinaus?

jus: Das wichtigste Argument, Talentpools aus der Mitte der Organisation selbstgesteuert zu organisieren, ist, mit der Identifizierung und Begleitung möglichst früh zu beginnen. Dadurch werden Wertschätzung und positive Beziehungserfahrung sehr früh als Unternehmenswert von Verantwortlichen für die Potenzialträgerinnen und Potenzialträger sympathisch sichtbar gemacht. Das beschleunigt die Rekrutierung und macht sie nachhaltiger.
Über die klassische Talententwicklung, die über die Geschäftsleitung und Führungsgremien strukturiert ist, dauert es oftmals Jahre, bis die Potenzialträgerinnen und Potenzialträger erkannt werden. Die Führung hat systemisch einen eingeschränkten Blick auf das tägliche Geschehen. Gerade in grossen Unternehmen benötigt ein Steigbügel für ein Talent mehr Vorbereitung – und die Zeit haben sie nicht mehr.

zia: Welche neuen Rollen können HR-Fachkräfte, betriebliche Mentoren oder externe Führungskräfteentwickler in dieser Entwicklung ausgestalten?

jus: Top-down-Entscheidungen sind nicht frei von Bias-Effekten; egal wie gut sie von Personalberatung und Führungskräften begleitet werden. Zusätzlich überholt sich Wissen heute schnell und die global, wie digital vernetzte Ökonomie definiert stetig neue Erfolgskriterien.

Das benötigt weitere Wissensträgerinnen und externe Begleiter mit einem geübten Blick für den Menschen, sein Verhalten und die Teamdynamik. Aktuelle Positionsinhabende sowie das Führungsgremium sind nicht genug unabhängig, um die passende Auswahl zu treffen. Erst mit mehr Perspektivenvielfalt können Wahrnehmungsverzerrungen weiter gemindert werden.

Ein moderierter Besetzungsprozess mit dem Talent, seinem Kollegium und der Unternehmensleitung als aktive Beteiligte auf Augenhöhe, schafft Diversität, mehr Auswahl und fördert die Mitarbeiterbindung.

zia: Vielen Dank für diesen zukunftsweisenden Impuls für die Entwicklung junger Fachkräfte.

Die Podcastfolge «Gelingende Arbeitsbeziehungen: Verhandlungsräume schaffen» mit Susanne Jung finden Sie bei «Mit Brille und Bart» auf allen Portalen, wo es etwas auf die Ohren gibt.

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