Löst Automatisierung den Fachkräftemangel?

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Christoph Jordi HR StrategieCarl Benedikt Frey und Michael Osborne haben 2013 an der Oxford University eine Studie verfasst, die bis heute nachwirkt. Sie haben sich mit Automatisierung und 700 Berufen beschäftigt. Ihre steile These: Fast die Hälfte aller heutigen Jobs werden bis 2030 durch die Automatisierung wegfallen. Vom Buchhalter bis zum Model. Von der Rechtsanwältin zum Sachbearbeiter. Im Kontext von Fachkräftemangel müsste das doch eine gute Nachricht sein? Weniger Jobs, weniger Bedarf nach Fachkräften – Problem gelöst. Warum das ein Trugschluss ist und was das für uns bedeutet, zeigt dieser Blogbeitrag.

Die Studie von 2013 ist jetzt schon ganze elf Jahre her. Aktuelle Untersuchungen bestätigen oder verschlimmern die Prognose. Künstliche Intelligenz wirkt wie ein Booster. Bis 2030 sollen über 20 Millionen Jobs verschwinden. Ist das nun gut oder schlecht?

Gut: Dumme Jobs gibt es bald nicht mehr

Viele Berufe mit repetitiven, langweiligen Arbeitsschritten wird es nicht mehr geben. Das sieht man schon deutlich, wenn man die Autoproduktion anschaut. Sie wird heute von Robotern dominiert. Tesla hat seine Karossriefertigung zu 95 Prozent automatisiert. In den Büros fallen viele Arbeiten, die mit mühseligen Recherchearbeiten verbunden waren, weg. Das betrifft auch den Berufsstand der Juristen. Das Posieren vor der Kamera ist auch nicht gerade kreative Arbeit – auch die Models sind betroffen. Günstiger und einfacher geht das heute mit künstlicher Intelligenz.
Für die Personalarbeit gilt es deshalb vorausschauend zu planen. Wo haben wir aktuelle Berufsbilder, die bald ersetzt werden können? Wie können wir die betroffenen Mitarbeitenden darauf vorbereiten?

Schlecht: Wir haben zu wenig Leute für die verbleibenden Jobs

Wenn wir hier anknüpfen, dann wird es schwierig einen Produktionsmitarbeitenden zum KI-Spezialisten zu machen. Nur wenige Buchhalterinnen werden zu professionellen Robotik Ingenieurinnen. Obwohl immer mehr Berufstätige wegen der Automatisierung auf dem Arbeitsmarkt sein werden, fehlen uns die Spezialisten und Spezialistinnen, die wir dringend brauchen, um die Zukunft unserer Unternehmen abzusichern. Paradoxerweise wird es also viele Arbeitssuchende geben und gleichzeitig einen grossen Fachkräftemangel. Bei den Arbeitssuchenden ensteht dann ein zunehmender Frust, dass sie nicht mehr gefragt sind. Gleichzeitig suchen wir händeringend nach den Experten und Expertinnen, die unseren Automatisierungsbedarf bedienen können.
Für die Personalarbeit gilt es flexible Arbeitsmodelle zu fördern, Kooperationen zwischen Unternehmen zu suchen und stark in die fachliche Weiterbildung zu investieren.

Gut: Viele neue Berufsbilder entstehen

Data Scientist, Cyber Security-Managerin, Data Analysten, Reality Check-Spezialisten, Blockchain-Entwicklerin, Gesundheitsinformatiker, UX/UI-Entwicklerin, Nachhaltigkeitsexperten, Achtsamkeits-Coaches, Drohnenpilotinnen, AR-Spezialisten, Ethik Expertinnen, Employee Wellness-Coach, Circular Economy-Designerinnen. Diese Liste können wir beliebig verlängern. Die neue Vielfalt ist beeindruckend und inspirierend. Mit neuen Technologien gehen viele neue Türen auf. Eine ganze Welt von neuen Berufen wartet auf uns. Das ist eigentlich grossartig und mega spannend. Es gibt so viel Raum sich zu bilden und sich zu entwickeln.
In der Personalarbeit gilt es, neue Berufsbilder aktiv zu fördern. Wir müssen uns mit Interesse und Neugier damit befassen. Und wir können dafür gut erst einmal vor der eigenen Türe kehren: Viele neue HR Berufsbilder entstehen. Wer ChatGPT nach neuen Berufsbildern für die HR Abteilung fragt, wird staunen.

Schlecht: Das Veränderungstempo ist höher als das Bildungstempo

Bei alle diesen neuen Berufsbildern wird unser Bildungssystem auf das Äusserste gefordert sein. Wenn die Industrialisierung fast 70 Jahre Zeit hatte sich in allen Branchen zu etablieren, dann haben wir diese Zeit jetzt sicher nicht mehr. Denken wir daran, wie lange es heute geht, ein neues Berufsbild zu entwickeln, Ausbildungsgänge zu konzipieren oder nur schon unternehmensintern neue Wege zu gehen. Schwellenländer machen hier mit enormen Tempo vorwärts, in China geht gerade richtig die Post ab. Da müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen. Hier geht es um krass radikale Veränderungen, von denen wir erst eine Vorahnung haben.
Für HR heisst es die Organisationsentwicklung und die Kulturarbeit zu forcieren. Wir müssen die Reaktionsschnelligkeit fördern und die kulturelle Eigenständigkeit stärken. Sie ist nicht kopierbar.

Gut: Kreativität ist gefragt

Das Zeitalter der Automatisierung und das Zeitalter der Kreativität sind Zwillinge. Alles, was Maschinen nicht können, was Algorithmen nicht schaffen: Das alles müssen wir fördern, stärken, trainieren. Kopfrechnen? Sprachen lernen? Geometrie? Geografie? Zeitverschwendung! Wir müssen uns auf Dinge konzentrieren, die nur im Original funktionieren. Das können auch handwerkliche Arbeiten sein. Berufe wie Elektroinstallateur, Sanitär, Dachdecker oder Schreiner sind ziemlich zukunftssicher. Hier haben wir gerade in der Schweiz einen hohen Qualitätsstandard. Den gilt es zu pflegen und zu bewahren. Kreativität gilt als Schlüsselkompetenz der Zukunft. Sie hilft, uns in einer komplexen und dynamischen Welt zurechtzufinden. Wir brauchen Innovation und eine positive Vorstellungskraft um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen.
Für die Personalarbeit gilt es vom Perfektionismus Abschied zu nehmen. Wir müssen Kreativitätsförderer werden und die Organisation befähigen mutig nach neuen Wegen zu suchen. Die Bewahrer und Besitzstandwahrer haben ausgedient.

Schlecht: Die Erfahrung ist wertlos

Schauen wir die grosse Menge der Beschäftigen in unseren Unternehmen an, dann wird der Altersdurchschnitt in den grösseren Unternehmen tendenziell über 45 Jahren liegen. Die bedrohten Berufsbilder sind in dieser Altersgruppe besonders stark vertreten. Meist haben diese Mitarbeitenden auch eine grosse Berufserfahrung aufgebaut. Das ist für jedes Unternehmen ein grosser Schatz. Bittere Wahrheit: Die künstliche Intelligenz vernichtet diesen Schatz mit einem Streich. Alles aufgebaute Wissen wird frei verfügbar für alle. Was bleibt und nicht ersetzt werden kann, sind die emotionalen Kompetenzen. Blöd ist, dass die emotionale Intelligenz unsere Unternehmen nicht allein retten kann. Wir haben also sehr viele Mitarbeitende und viel fachliche Kompetenz, die wegautomatisiert wird. Die Idee, dass uns das Wissen der älteren Mitarbeitenden in Zukunft hilft, ist leider falsch.
Für HR heisst es besondere Programme für Mitarbeitende 45+ zu gestalten. Weiterbildung ist absolut prioritär. Die Förderung der Arbeitsmarktfähigkeit zentral.

Gut: Jede Bewegung hat eine Gegenbewegung

Auch wenn sich das alles alarmistisch anhört, gibt es auch die gute Seite, dass jede Bewegung eine Gegenbewegung auslöst. Die grosse Automatisierung generiert den Hunger nach Originalität und Echtheit. Nachhaltige regionale Naturprodukte. Von Menschen liebevoll verarbeitet. Oder die herzliche Gastgeberin, ein echter Concierge aus Fleisch und Blut. Hier entstehen neue Bedürfnisse und neue Geschäftsmöglichkeiten. Meditation, Achtsamkeit, Selbstfindung. Nachhaltige Bäckerkunst, persönliche kuratierte Freizeiterlebnisse. Mensch bleibt Mensch. Damit bleibt auch das Bedürfnis nach Begegnung und Glaubwürdigkeit.
Welchen Beitrag können wir im HR leisten, dass wir glaubwürdig und echt bleiben?
Hier kommt mein zweiter Aufruf zur Kulturarbeit. Unternehmenskultur ist nicht kopierbar. Unternehmenskultur ist der Kern jeder Marke, die bei Mitarbeitenden, aber auch bei Kunden ein Zugehörigkeitsgefühl auslöst.

Schlecht: Unser Erfolgsrezept ist unser Niedergang

In der Schweiz und auch in den europäischen Nachbarländern bauen wir auf stabile Systeme als Basis für eine funktionierende Gesellschaft. Das war unser Erfolgsrezept für das industrielle Zeitalter. Es war die Basis für den grossen Aufschwung nach den Weltkriegen. Die Demokratie beruht auf einem ständigen Aushandeln, auf einer oft mühseligen Suche nach allgemein verträglichen Lösungen. Dabei ist Rücksichtnahme auf die Geschichte und den erreichten Besitzstand sehr wichtig. Leider wird das zunehmend zu unserem Problem. Demokratische Systeme sind langsam. Neuerungen nur auf der Basis der Absicherung des Status Quo aufzubauen, ist wenig innovativ. Kleinere, und «junge» Länder wie Estland oder Singapur sind führend, weil sie weniger Geschichte mitschleppen müssen. Wir haben noch nicht viel Boden verloren, müssen aber auf den Weg zurückfinden zum Erfindergeist der Industrialisierung mit einer blühenden Maschinenindustrie, Uhren, Textilverarbeitung.
Wir müssen auch ein bisschen die «neue Schweiz» erfinden.
Die HR Zunft muss die Rolle wechseln. Weniger Management, mehr Befähigung zur Innovation, zum Mut und zur Agilität.

Gut: Nicht alles passiert gleichzeitig

Nicht alle in der Studie von Osborne und Frey genannten Berufe werden gleichzeitig verschwinden. Nicht alle Branchen werden gleich betroffen sein. Das ist sicher eine gute Nachricht. Wenn wir auch eher zehn als fünfzig Jahre Zeit haben werden, das alles zu verdauen. Wir tun gut daran mit offenen Augen, Sinnen und einer guten Portion Neugier den anstehenden Änderungen in die Augen zu schauen. «The future ist here and we are already late!» Dieser Spruch des Erfinders, Designers und Architekten Richard Buckminster Fuller stammt aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wir sind also nicht die ersten die der Zukunft hinterherrennen.

Fazit: Es ist kompliziert, aber nicht hoffnungslos

Das Fachkräfteproblem wird durch Automatisierung und KI nicht beseitigt. Trotz Wegfall vieler Jobs, wird sich der Fachkräftemangel sogar noch verstärken. Was heisst das konkret? Was können wir tun?

  1. Arbeiten Sie an der Unternehmenskultur, sie ist das Zukunftskapital ihrer Unternehmung
  2. Investieren Sie in neue Berufe und in Ausbildung
  3. Planen Sie frühzeitig die Zukunft der Mitarbeitenden, deren Arbeit automatisiert werden kann. Investieren Sie in Programme, um sie arbeitsmarktfähig machen.
  4. Setzen Sie auf Befähigung statt auf Kontrolle und Management
  5. Entwickeln Sie die Organisation zu mehr vernetztem Denken und schnellerer Entscheidungsfindung
  6. Bringen Sie Employer Branding auf das nächste Level: Von Employer Marketing zu einer ganzheitlichen Employee Experience
  7. Denken Sie positiv!

Wir sehen in unserer Beratungsarbeit bereits viele Unternehmen, die sich in die gute Richtung bewegen und sich schon jetzt stark mit der Zukunftstauglichkeit des Unternehmens auseinandersetzen. Das ist nicht nur Arbeit der Strategieabteilung – die Personalarbeit ist aufgefordert einen wichtigen Beitrag zu leisten.
Packen Sie es also an! Mit Zuversicht, Spass und Gestaltungsfreude.

1 comment for “Löst Automatisierung den Fachkräftemangel?

  1. Tobias
    24. Mai 2024 um 7:48

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