Seit Jahren ist umstritten, ob die Sperrfristen auch während einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit greifen. Dabei geht es häufig um Fälle einer meist auf einen Konflikt am Arbeitsplatz zurückzuführenden psychischen Erkrankung. Zur Eingrenzung der Fragestellung ist es wichtig zwischen «arbeitsplatzbezogener» und «arbeitsplatzbedingter» Arbeitsunfähigkeit zu unterscheiden.
Die eine Erkrankung ist häufig eine Folge der Verhältnisse am Arbeitsplatz: sie ist arbeitsplatzbedingt. Ein Arbeitsplatzwechsel allein führt jedoch nicht zur Genesung. Ein solcher kann zwar die Genesung begünstigen, er genügt aber nicht. Die gesundheitliche Beeinträchtigung wird auch nach einem Arbeitsplatzwechsel für eine beschränkte Zeit bleiben. Die betroffene Person muss sich erholen, bevor sie wieder arbeiten kann. Eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit liegt jedoch nur vor, wenn der Arbeitnehmer mit Bezug auf seinen Gesundheitszustand sofort und augenblicklich an einem anderen Arbeitsplatz ohne Einschränkung arbeiten könnte. In wessen Sphäre der Grund für den Konflikt fällt, ist in der Regel nicht einfach zu bestimmen. Da besteht die Gefahr für sehr komplexe und emotionale Prozesse. Das sollte eigentlich sinnvollerweise vermieden werden. Die Fälle sind nach Möglichkeiten zu vermeiden.
Neues Bundesgerichturteil widersprüchlich
Das Bundesgericht hielt fest, dass die Sperrfrist nicht gelte, wenn sich die Gesundheitsbeeinträchtigung als so geringfügig erweise, dass sie die Besetzung eines neuen Arbeitsplatzes nicht verhindere, insbesondere wenn die Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz beschränkt sei (BGer 1C_595/2023 vom 26. März 2024 E. 5.1). Erstaunlicherweise setzt sich das Bundesgericht in diesem Entscheid aber in keiner Weise mit der umfangreichen Diskussion in der Lehre auseinander; das Urteil erging zudem nur in Dreierbesetzung. Es handelt sich folglich nicht um einen Grundsatzentscheid.
Die Urteilsbegründung ist zudem widersprüchlich. Das Bundesgericht hält richtiger Weise fest, dass gemäss der Botschaft des Bundesrates Art. 336c OR nicht eingeführt wurde, weil der Zustand des Arbeitnehmers zum Zeitpunkt des Erhalts der Kündigung ihn am Suchen einer neuen Stelle hindere, «sondern weil eine Anstellung des Arbeitnehmers durch einen neuen Arbeitgeber auf den Zeitpunkt des Ablaufs der ordentlichen Kündigungsfrist im Hinblick auf die Ungewissheit über Fortdauer und Ausmass der Arbeitsunfähigkeit höchst unwahrscheinlich» erscheine.
Das betrifft jedoch nicht die Frage, ob der Arbeitnehmer sofort an einem anderen Arbeitsplatz arbeitsfähig wäre, wie es das Bundesgericht argumentiert. Gemäss der Argumentation des Bundesrates geht es nicht um den Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Kündigung, sondern am Ende der voraussehbaren Kündigungsfrist. Wäre die vom Bundesrat für die Bestimmung gegebene Begründung ernst zu nehmen, müsste die Praxis erheblich anders sein. Bei sehr vielen Krankheiten ist klar, dass sie bei einer zwei- oder dreimonatigen Kündigungsfrist am Ende dieser Kündigungsfrist ausgeheilt sind und damit eine neue Stelle angetreten werden könnte. Demgegenüber kann die Medizin heute sehr wohl eine schwere und in Zukunft zu Arbeitsunfähigkeiten führende Krankheit erkennen, ohne dass im Moment der Diagnose eine Arbeitsunfähigkeit besteht.
Folglich müsste dann eine Sperrfrist bestehen. Von daher sollte sich die Rechtsprechung an den klaren Gesetzestext halten: Eine Sperrfrist besteht, «während der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden durch Krankheit oder durch Unfall ganz oder teilweise an der Arbeitsleistung verhindert ist». Und dabei geht es um die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung, das heisst diejenige am konkreten Arbeitsplatz!
In der Praxis ist folglich bei Kündigungen im Falle eines Arbeitskonflikts Vorsicht geboten: Ist der Arbeitnehmer krankgeschrieben, muss geprüft werden, ob die Arbeitsunfähigkeit auch bei einem Arbeitsplatzwechsel für eine kurze Zeit weiter bestehen könnte. Nur wenn das nicht der Fall ist, besteht eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit, welche die Sperrfrist möglicherweise entfallen lässt. Aber auch dann ist fraglich, ob die genannte Rechtsprechung Bestand haben wird.
Wie unterscheiden sich die arbeitsplatzbezogene und die arbeitsbedingte Arbeitsunfähigkeit?
Die Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324 und 324a OR verlangt nur eine Arbeitsunfähigkeit. Diese muss nicht auf Krankheit oder Unfall zurückzuführen sein. Sie kann auch andere Gründe haben.
Der Kündigungsschutz nach Art. 336c Abs. 1 Bst. b OR verlangt demgegenüber neben der Arbeitsunfähigkeit, dass diese auch auf Krankheit oder Unfall zurückzuführen ist.
Das führt nun bei Arbeitskonflikten zu verschiedenen Konstellationen:
- Ist die Person arbeitsunfähig und hat diese Krankheitswert, dann hat sie Anspruch auf Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a OR und geniesst den Kündigungsschutz nach Art. 336c Abs. 1 Bst. b OR, sofern die Krankheit auch bei einer Beseitigung des Konflikts bzw. einem Arbeitsplatzwechsel andauert.
- Ist die Person arbeitsunfähig und hat diese Krankheitswert, dann hat sie Anspruch auf Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a OR, hat aber keinen Kündigungsschutz nach Art. 336c Abs. 1 Bst. b OR, wenn die Krankheit bei einer Beseitigung des Konflikts bzw. einem Arbeitsplatzwechsel sofort geheilt ist.
- Ist die Person an der bisherigen Arbeitsstelle bei unveränderten Bedingungen arbeitsunfähig, ohne dass eine Krankheit im medizinischen Sinne diagnostiziert werden kann, handelt es sich um eine Unzumutbarkeit der Arbeit. Dann ist zu prüfen, ob die Ursache in die Sphäre des Arbeitnehmers oder in jene der Arbeitgeberin fällt.
- Fällt der Grund für die Arbeitsunfähigkeit in die Sphäre der Arbeitgeberin, liegt ein Annahmeverzug der Arbeitgeberin vor. Sie bietet dem Arbeitnehmer keinen zumutbaren Arbeitsplatz. Dann trifft die Arbeitgeberin eine Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324 OR (nicht 324a OR). Sie wird unbefristet den vollen Lohn weiterbezahlen müssen und in aller Regel wird eine Taggeldversicherung nicht leistungspflichtig sein. Erstaunlicherweise besteht aber kein Kündigungsschutz.
- Fällt der Grund für die Arbeitsunfähigkeit in die Sphäre des Arbeitnehmers, besteh weder eine Lohnfortzahlungspflicht noch ein Kündigungsschutz.