In der «NZZ am Sonntag» vom 26. Juli 2015 war zu lesen, dass medizinisches Personal trotz Erkältungen und Fieber immer öfter zur Arbeit erscheint. Laut der in der Zeitung zitierten Studie gehen «80 Prozent der 280 Ärzte mit Husten oder laufender Nase arbeiten, 21 Prozent sogar mit Fieber. Beim Pflegepersonal ging ebenfalls die Hälfte trotz Husten, Erkältung oder Halsschmerzen zur Arbeit.»
Es scheint mehr die Regel als die Ausnahme zu sein, ab und zu krank zur Arbeit zu erscheinen. Auch in einer Schweizer Online-Befragung (Swisscom Lifebalance-Studie, 2012) gab nur ein Viertel der Befragten an, nie zur Arbeit zu gehen, obwohl sie das Gefühl haben, aus gesundheitlichen Gründen besser zu Hause zu bleiben. Fast 20 Prozent gehen sogar entgegen dem Rat des Arztes arbeiten. Eine grosse Mehrheit wartet mit der Erholung sogar bis zum Wochenende, obwohl die eigene Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist.
Wenn Mitarbeitende krank am Arbeitsplatz erscheinen, spricht man von Präsentismus. Prof. Eberhard Ulich (2013) definiert Präsentismus als «Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz gesundheitlicher oder anderweitiger Beeinträchtigung, die eine Abwesenheit legitimiert hätte». Mitarbeitende sind zwar physisch präsent, allerdings sind sie aufgrund von seelischen, körperlichen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen geistig abwesend.
Es handelt sich um ein komplexes Phänomen. Neben Gesundheitszustand, Alter und Persönlichkeit spielen insbesondere Einflussfaktoren aus dem Betrieb eine zentrale Rolle. So steht Stress im direkten Zusammenhang mit der Häufigkeit von Präsentismus. Leiden die Mitarbeitenden unter hohen Belastungen, Überforderung, übermässigen Überstunden oder einem belastenden Sozialklima, sind sie eher geneigt, krank zu arbeiten. Dies wird durch eine Arbeitsorganisation verstärkt, in der die Mitarbeitenden indirekt über Ziele und nicht direkt über Aufgaben geführt werden. Für die Erreichung persönlicher Leistungsziele oder für den Abschluss eines Projekts sind Mitarbeitende eher bereit, gesundheitliche Beeinträchtigungen zu ignorieren und die beruflichen vor die privaten Ziele zu stellen. Denn der Erreichung der beruflichen Ziele wird kurzfristig mehr Gewicht beigemessen als der eigenen Gesundheit.
Aber auch wirtschaftliche Gründe stehen im Fokus, wie zum Beispiel die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust. Mit Abstand am häufigsten geben die Befragten an, die Arbeitskollegen nicht im Stich lassen zu wollen. Gerade im Gesundheitswesen spielt dieser Punkt eine wichtige Rolle. In Organisationen, welche sich im Umgang mit Absenzen eher an strikten Richtlinien orientieren, Arbeitszeugnisse bereits am ersten Tag vorgelegt werden müssen oder wo Mitarbeitende für fehlende Absenzen belohnt werden, nimmt der Präsentismus nachweislich zu.
In einer Untersuchung aus Deutschland untersuchten Hansen und Andersen (2009) die potenziell krankmachenden Wirkungen des Präsentismus. Sie konnten nachweisen, dass «Präsentisten», die mehrmals pro Jahr krank zur Arbeit erschienen, ein um 53 Prozent erhöhtes Risiko haben, an einer späteren Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwei Wochen zu erkranken. Sie haben sogar ein um 74 Prozent erhöhtes Risiko für eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwei Monaten.
Das Vermeiden von kürzeren, regenerativen Phasen bei «kleineren» Krankheiten begünstigt demnach längere Krankheitsabwesenheiten. Das Auslassen von kurzen Phasen der Arbeitsunfähigkeit bei Krankheit zieht nachweislich einen schlechteren Gesundheitszustand und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach sich. Auch Burnout kommt häufiger bei Personen vor, welche vorher keine Kurzabsenzen hatten. Gemäss der Studie bilden kurze Erholungsphasen die Voraussetzung für eine längerfristige Gesundheit.
Rückläufige Absenzquoten müssen daher immer differenziert betrachtet werden. Eine Kurzabsenz ist nicht gleich «blau machen» – oder anders gesagt: die Anwesenheit heisst nicht in jedem Fall, dass die Person voll leistungsfähig ist.
Für die Prävention von Präsentismus ist viel Aufklärungsarbeit erforderlich. Führungskräfte wie auch Mitarbeitende sollten für das Thema sensibilisiert und über deren Folgen verstärkt informiert werden. Die Bedeutung von Erholungsphasen bei kurzen Krankheiten steht dabei besonders im Fokus. Kurzabsenzen zur Erholung bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen helfen schlussendlich die Genesung zu begünstigen und einer Chronifizierung vorzubeugen.
Oder wenn ich unterfordert bin und meine Stunden „absitze“… das bringt eine weitere Herausforderung der Führungsperson mit sich.
Laut diesem Beitrag ist „Krank zur Arbeit = Präsentismus“. Betreibe ich auch Präsentismus, wenn ich müde oder unmotiviert an meinem Arbeitsplatz sitze und eigentlich sehr unproduktiv bin?
Hallo Monika,
vielen Dank für Ihre Frage!
Präsentismus kann definiert werden als „Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz gesundheitlicher oder anderweitiger Beeinträchtigung, die eine Abwesenheit legitimiert hätte“.
Das Phänomen wird oft auch „Krank zur Arbeit, sick on the job, sickness presence, sickness presenteeism, working while ill oder attending work while ill“ genannt.
Philip Strasser Gesellschaftsarzt und Mitglied der Direktion, Swiss Life AG, Zürich hatte zu diesem Thema eine spannende Präsentation an der BGM-Tagung vom 26. August 2015.
• Link zur Website der BGM-Tagung: http://gesundheitsfoerderung.ch/ueber-uns/veranstaltungen/bgm-tagung.html
• Link zur Präsentation von Herrn Strasser: http://gesundheitsfoerderung.ch/assets/public/documents/1_de/d-ueber-uns/2-agenda/2-bgf-tagung/tagung-2015/praesentationen_plenum/Philip_Strasser.pdf
Präsentimus bezieht sich also auf Gesundheitsprobleme bzw. auf den Krankheitszustand eines Mitarbeitenden und dessen Leistungsfähigkeit (siehe auch Ihre zweite Frage)
Anwesenheit trotz quantitativer Unterforderung gehört laut Definition nicht zu Präsentismus. Obwohl auch dies negative Effekte auf die Gesundheit haben kann, da es zu einem Boreout kommen kann. Ausserdem verursacht man für den Arbeitgebenden unproduktive Stunden, hier liegt dann auch die Parallele zum Präsentismus.