Karriere braucht Vertrauen: Warum Vorurteile Chancen verhindern und Zutrauen Karrieren ermöglicht

Armin Ziesemer KarriereKarrieren entsteht dort, wo Menschen Vertrauen schenken – nicht erst, wenn alles bewiesen ist. Viele Talente insbesondere mit Migrationshintergrund starten ohne diesen Vertrauensvorschuss und müssen doppelt kämpfen, um ihre Kompetenzen sichtbar zu machen. Der Schlüssel zu fairen Karrieren liegt deshalb in einer Personalentwicklung, die Zutrauen als Ausgangspunkt begreift.

Edris lernte ich in einem Lehrgang für angehende Führungskräfte in der Reinigungsbranche kennen – engagiert, reflektiert, wissbegierig. Edris ist Ende 20, kam mit 16 aus Afghanistan nach Deutschland und ist heute Präsident eines afghanisch-deutschen Kulturvereins. Er spricht fliessend Deutsch, vier weitere Sprachen und organisiert interkulturelle Aktivitäten.
In einem Einzelgespräch während einer Aufgabe zur Reflexion von Werten in der Führung diskutierten wir über Vertrauen. Edris sagte wie selbstverständlich: «Vertrauen muss man sich verdienen.» Ich entgegnete: «Vertrauen braucht Vorschuss – sonst entsteht kein Lernen, keine Entwicklung.»

Diese Begegnung beschäftigt mich. Denn sie berührt einen zentralen Punkt im Dialog um Chancengleichheit und Karrieren.

Karriere ist mehr als Aufstieg – sie ist soziale Teilhabe

Wenn wir in der Personalentwicklung über «Karriere» sprechen, meinen wir häufig Position, Verantwortung oder Einkommen. Doch Karriere ist weit mehr: Karriere bedeutet Zugang, Sichtbarkeit, Selbstwirksamkeit – und das Gefühl, dazuzugehören.
Menschen wie Edris bringen oft ungeahnte informelle und non-formale Kompetenzen mit: Mehrsprachigkeit, Durchhaltevermögen, kulturelle Adaptionsfähigkeit. Doch diese Ressourcen bleiben oft unsichtbar, weil sie nicht in klassische Karrierebiografien passen. Viele Migrantinnen und Migranten starten in Branchen mit niedrigen Einstiegshürden und gleichzeitig hohen Aufstiegsschwellen.

Wer sich beruflich entfalten will, braucht mehr als Fleiss. Er oder sie braucht jemanden, der Zutrauen schenkt. Karriere entsteht dort, wo ein Mensch zur rechten Zeit sagt: «Ich traue dir diese Aufgabe zu.»

Vertrauen als Karrieremotor

Vertrauen ist die unsichtbare Währung jeder Laufbahn – weit über Migrationsthemen hinaus. Ohne Vertrauen keine Verantwortungsnahme, ohne Verantwortungsnahme keine Entwicklung. Doch Vertrauen ist in vielen Organisationen ungleich verteilt.

Unbewusste Vorurteile beeinflussen Einstellungsentscheidungen, Leistungsbewertungen und Beförderungen. Ein fremd klingender Name, ein Akzent, ein anderes Auftreten – rasch werden Kompetenzen infrage gestellt. Studien zeigen, dass Bewerbungen mit «nicht-deutsch» klingenden Namen seltener zu Vorstellungsgesprächen führen, obwohl Qualifikation und Erfahrung gleich sind.

Damit werden Karrieren blockiert, bevor sie überhaupt beginnen. Vertrauen wird nicht gewährt, sondern eingefordert. Wer ständig beweisen muss, dass er vertrauenswürdig ist, kann kaum mutig handeln oder führen lernen.

Gerade in der Reinigungsbranche, Pflege oder Logistik – also in jenen Bereichen, die gesellschaftlich unverzichtbar sind – fehlt es oft an formalen Aufstiegspfaden und an Führungskräften mit kultursensiblem Bewusstsein. Dabei wäre hier ein starker Hebel, um Vertrauen institutionell zu verankern.

Kompetenz entsteht durch Zutrauen

Kompetenzentwicklung ist kein einseitiger Prozess. Sie setzt eine Beziehung voraus, in der Mitarbeitende und Vorgesetzte sich ebenbürtig ernst nehmen.

In meiner Rolle als Organisationsentwickler, Business Coach oder Dozent erlebe ich es immer wieder: Wo Vertrauen geschenkt wird, kann Leistungsbereitschaft wachsen. Wo Vertrauen verweigert wird, entsteht Anpassung.

Wenn eine Führungskraft sagt: «Ich gebe dir Verantwortung, auch wenn ich dich noch nicht lange kenne», eröffnet sie Lernräume. Diese Haltung signalisiert: Ich sehe dich als kompetent, nicht als Risiko.

Vorurteilsbewusste Karrierearbeit – eine Führungsaufgabe

Vorurteilsbewusste, kultursensible Personalentwicklung bedeutet, systematisch zu hinterfragen, wem Vertrauen und Chancen gewährt werden. Es reicht nicht, Diversität in Leitbilder zu schreiben – sie ist in Karrierepfade zu integrieren.

Das bedeutet konkret:

  • Vertrauensvorschuss als Führungsprinzip – Potenziale erahnen, bevor sie vollständig sichtbar sind.
  • Sprachliche und kulturelle Förderung – nicht als Defizitkompensation, sondern als Investition in Karrieren.
  • Anerkennung non-formaler und informeller Kompetenzen – transkulturelle Lebenserfahrung, Mehrsprachigkeit, familiäre Verantwortung, ehrenamtliche Engagements zählen.

Eine Karrierepolitik, die Vielfalt ernst nimmt, sollte Gleichbehandlung ebenso gewährleisten wie sie ungleiche Startbedingungen aktiv ausgleicht.

Karriere ist beidseitige Lernbereitschaft

Karriereentwicklung in einer pluralen Gesellschaft ist keine Einbahnstrasse. Sie erfordert eine hohe Lernbereitschaft auf beiden Seiten:

  • Von Mitarbeitenden den Mut, Verantwortung zu übernehmen und eigene kulturelle Prägungen zu reflektieren.
  • Von Arbeitgebern die Offenheit, Vertrauen zu schenken, wo Erfahrung fehlt, und Strukturen zu schaffen, in denen Fehler Teil des Lernens sind.

Transkulturelle Zusammenarbeit heisst nicht, Differenzen zu übersehen, sondern sie dialogisch zu gestalten. Sie heisst, Vertrauen nicht als Risiko, sondern als Ressource für gemeinsames Lernen zu begreifen.

Fazit: Vertrauen öffnet Karrieretüren

Noch hallt mir Edris Aussage nach: «Vertrauen muss man sich verdienen.»

Ich meine: Vertrauensvorschuss ist die Grundlage erfolgreicher Arbeitsbeziehungen und von Karrieren.

Vielleicht liegt die Wahrheit dazwischen – oder einfach in der Bereitschaft, den ersten Schritt zu tun. Denn Karriere gelingt dort, wo jemand Chancen gibt, bevor Leistung messbar ist. Dort, wo Vertrauen Vorschuss ist, nicht Belohnung. Und dort, wo Menschen mit unterschiedlichen Biografien inspiriert werden und sich selbst dafür begeistern können, für Neues anzupacken.

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