Menschen mit Behinderung begegnen in der Schweiz immer noch vielen Vorurteilen – und oft einer Form von Mitgefühl, die Inklusion zum reinen Wohltätigkeitsakt verkommen lässt. Doch Teilhabe lohnt sich für alle. Jenseits von Mitgefühls- und Verwertungsargumenten.
In der Schweiz leben 1,7 Millionen Menschen, ab 16 Jahren, mit einer oder mehreren Behinderungen. Die Zahlen zeigen: Menschen mit Behinderung(en) sind weder seltene Ausnahmen in unserer Gesellschaft, noch sollte die Thematisierung von Behinderung gesellschaftlich als heikel gelten. Aber noch immer verhindern Unsicherheit, Vorurteile und fehlende Informationen eine gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt, wie unterschiedliche Untersuchungen zeigen und eine Studie, die wir am iDNA Institut für Diversität und Neue Arbeitswelten der OST – Ostschweizer Fachhochschule gemeinsam mit Saphir Ben Dakon Communications GmbH durchgeführt haben, bestätigt.
Laut dem aktuellen Inklusionsindex von Pro Infirmis schätzen rund 75 Prozent der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz ihre Chancen auf eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt als gering oder sehr gering ein. Auch die jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik unterstreichen die Notwendigkeit inklusiver Massnahmen: Während 84,1 Prozent der Menschen ohne Behinderungen erwerbstätig sind (davon 37 Prozent in Teilzeit), liegt die Erwerbsquote bei Menschen mit Behinderungen bei 67,9 Prozent – davon arbeitet die Hälfte in Teilzeit. Die Ergebnisse verdeutlichen einen hohen Bedarf an Sensibilisierung innerhalb von Unternehmen und allgemein dem Schweizer Arbeitsmarkt.
Inklusion als Chance: Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt
Vor dem Hintergrund des zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangels, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) – gewinnen bisher wenig oder bisweil ungenutzte Arbeitskräftepotenziale an Bedeutung. Menschen mit Behinderungen stellen dabei eine oft übersehene, aber hochrelevante Ressource dar. Viele verfügen über eine gute Ausbildung, spezifische Fachkenntnisse und eine hohe Motivation, sich aktiv ins Arbeitsleben einzubringen. Dennoch bleiben ihre Fähigkeiten im Arbeitsmarkt häufig ungenutzt, dies nicht aufgrund mangelnder Qualifikation, sondern wegen struktureller Barrieren, Vorurteilen oder fehlender Informationen auf Seiten der Arbeitgebenden. Im Rahmen einer von Innosuisse geförderten Vorstudie sind wir der Frage nachgegangen, ob KMU in der Schweiz Bedarf an einer digitalen Lernplattform zur Sensibilisierung und Weiterbildung im Bereich Inklusion von Menschen mit Behinderungen haben. Zur Bedarfserhebung haben wir gezielt Workshops mit Vertretungen von KMU sowie mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt, um beide Perspektiven gleichermassen einzubeziehen.
Die Vorstudie zeigt: KMU wünschen sich klare Informationen zu rechtlichen Rahmenbedingungen, mehr Sicherheit im Umgang mit Behinderungen und Sensibilisierung auf Team- und Führungsebene. Es fehlt oft an strukturierten Prozessen und internem Wissen. Menschen mit Behinderungen erleben vor allem Vorurteile, fehlende Offenheit und geringe Sichtbarkeit ihrer Kompetenzen. Sie fordern flexible Arbeitsmodelle, eine echte Willkommenskultur und mehr Fokus auf Fähigkeiten statt Defizite. Beide Seiten sehen Inklusion als Chance – es fehlt aber an klaren Strukturen.
Vorurteile überwinden: Warum Mitleid fehl am Platz ist
Saphir Ben Dakon von Saphir Ben Dakon Communication GmbH führte die Vorstudie gemeinsam mit dem iDNA durch. Im Gespräch teilt sie ihre Erfahrungen aus dem Projekt und ihre Perspektive auf gelingende Inklusion in der Arbeitswelt.
Aus deiner Sicht als Kommunikations- und Inklusionsexpertin: Was sind die grössten kommunikativen Missverständnisse oder Hürden, wenn es um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in KMU geht? Und wie könnten sie überwunden werden?
Sehr oft wird kommunikativ auf Verkaufsargumente zurückgegriffen. So wird zum Beispiel an das Mitgefühl der Arbeitgebenden appelliert. Dabei verkommt die Anstellung von Menschen mit Behinderungen zu einem Wohltätigkeitsakt. Wenn eine professionelle Beziehung auf dieser Grundlage erbaut wird, ist es schwierig, vor allem in einem kleinen Team, die Zusammenarbeit zielführend zu gestalten.
Inklusion bedeutet, Unternehmensstrukturen so zu verändern, dass mehr Menschen Zugang haben. Dabei geht es darum, Barrieren systemisch abzubauen, damit alle teilhaben können. Nicht jede Person mit Behinderung braucht dabei alle Anpassungen. Für KMU wirken solche Veränderungen oft aufwendig, doch bei der Einstellung einzelner Mitarbeitenden genügen meist kleine, gezielte Anpassungen. Wichtig ist, vorhandene Zugänge im Unternehmen zu kennen und offen an Bewerbende zu kommunizieren.
Wichtig ist ein echter Dialog ohne Vorurteile: Statt invasive Fragen zu Diagnosen zu stellen, sollte nach Zugängen gefragt und die Expertise beider Seiten anerkannt werden. Selbstbetroffenen kennen ihre Fähigkeiten und Zugänglichkeitsanforderungen, Unternehmen ihre Strukturen. So lässt sich gemeinsam klären, ob es passt.
Aus meiner persönlichen Erfahrung tendieren Menschen, gerade in kleineren Organisationen, dazu, Menschen einzustellen, mit denen sie sich identifizieren. Die Wahrheit ist: Die Gesellschaft identifiziert sich nicht gerne mit Behinderungen. Dabei leben 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit Behinderung. Ich wünsche mir einen Haltungswandel, denn Behinderung allein sollte kein Ausschlusskriterium sein. Vielmehr sollten Bewerbende die Chance auf ein Gespräch bekommen.
Was hat dich im Austausch mit den KMU und den Menschen mit Behinderungen im Rahmen des Projekts besonders überrascht oder bewegt?
Ich habe im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit die Arbeitsintegration von Frauen mit Behinderungen untersucht. Aus den Erfahrungsberichten der Selbstbetroffenen sowie aus den Praxisimpulsen der Unternehmen schliesse ich, dass wir in Bezug auf Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen immer noch vor denselben Fragen und Herausforderungen stehen. Es hat mich nicht überrascht, gab mir aber zu denken. Es gibt inzwischen viel mehr Wissen und trotzdem scheint die Antwort auf die nächsten Schritte in beiden Gruppen immer wieder zu sein: «Es braucht mehr Wissen, Begegnungen und Sensibilisierung». Ich finde, es reicht nicht mehr nur zu sensibilisieren – Menschen mit Behinderungen müssen aktiv in Organisationen präsent sein. Nur so entstehen echte Begegnungen, Lösungen und gemeinsames Verständnis.
Handlungsempfehlungen für eine gelebte Inklusion
Inklusion braucht konkrete Schritte im Alltag. Um Inklusion in Unternehmen, zu verankern, können folgende Massnahmen helfen:
- Offene Kommunikation fördern: Schaffen Sie ehrlichen Dialog, bei dem Mitarbeitende mit Behinderungen ihre Zugänglichkeitsanforderungen selbst einbringen können. Vermeiden Sie Vorurteile und invasive Fragen, und konzentrieren Sie sich auf Zugangswege und Kompetenzen.
- Strukturen anpassen statt Menschen: Kleine, gezielte Anpassungen an Arbeitsplätzen und Prozessen sind oft ausreichend. Erkennen Sie vorhandene Zugänge in Ihrem Unternehmen und kommunizieren Sie diese transparent gegenüber Bewerbenden.
- Haltung und Präsenz stärken: Fördern Sie einen Kulturwandel, in dem Behinderung als Teil der Vielfalt gesehen wird. Menschen mit Behinderungen müssen präsent im Unternehmen sein – nur so entstehen echte Begegnungen, Verständnis und nachhaltige Veränderungen.
Mit diesen Schritten wird Inklusion nicht nur ein Thema, sondern gelebte Realität – zum Vorteil aller.