Fünf selten ausgesprochene Wahrheiten über die digitale Transformation

Die Schlagworte Agilität, Netzwerkorganisation und Skill-Shift sind in aller Munde. Alle wollen neue Märkte erschliessen, wie ein Start-up funktionieren, anpassungsfähiger werden und ihre Führungsverständnisse verändern. Doch der Wandel zur digitalen Netzwerkwirtschaft hat einige unbequeme Konsequenzen, die selten ausgesprochen werden. Sie erklären einen Teil des Unbehagens und des Widerstands gegen die gegenwärtig laufenden Change-Initiativen.

Die digitale Transformation definiert das Menschliche neu. Mit jeder Generation neuer Gadgets kommt die digitale Technologie dem menschlichen Körper näher. Bereits jetzt möchten viele nicht mehr ohne Smartphone neben dem Bett einschlafen oder tragen intelligente Uhren und Fitnessbänder. Es bleibt nur noch ein kleiner Schritt zu tun, bis die Technologie unter unsere Haut dringt. Durch das Internet lagern wir unser Gedächtnis aus, was wir wissen und erfahren hängt von Algorithmen ab. Gleichzeitig werden die sichtbaren und unsichtbaren Roboter Teil der Gesellschaft. Sie nehmen uns Arbeit ab, unterhalten uns, werden unsere Assistentinnen, unsere Lebens- und Sexpartner. Das Verhältnis zu Robotern wird eine Frage der Lebensgestaltung – aber auch des Employer Brandings.

Die digitale Transformation verkürzt Lebenszyklen. Durch die Transparenz des Wissens und die globalen Produktionsmethoden beschleunigt sich die Einführung von neuen Produkten. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass diese Beschleunigung auch für Geschäftsmodelle, Branchen und Volkswirtschaften gilt. Die Schweiz lebt von einigen Branchen, die sich an einem späten Punkt im Lebenszyklus befinden. Diese werden wir in den nächsten Jahren erneuern oder gar ersetzen müssen. Banken und Versicherungen werden durch Fintechs und Crowds bedrängt. In der Pharmaindustrie wird sich wie überall (und besonders deutlich sichtbar bei der Automobilindustrie) der Fokus von der Hardware (Pillen) zur Software verlagern (Daten). Die Verkürzung der Lebenszyklen gilt auch im Innern des Unternehmens: für Organigramme, Stellen und Berufe.

Die digitale Transformation eliminiert das mittlere Management. Wir haben begriffen, dass die Digitalisierung ein verstecktes Rationalisierungsprogramm ist. Doch Arbeitsplätze gehen nicht nur durch die Delegation der Arbeit an Roboter, Drohnen und Algorithmen verloren. Zu wenig diskutiert werden bisher die Folgen der Digitalisierung für das mittlere Management. Digitale Arbeitsumgebungen stärken das Prinzip der Selbstorganisation, Information ist durch digitale Systeme für alle zugänglich, künstliche Intelligenz lenkt uns durch die Informationen und Netzwerke oder bereitet Entscheide vor. Führungskräfte wird es für das Weiterleiten von Informationen und das Verteilen von Arbeit in Zukunft nicht mehr brauchen. Der Wandel zur Netzwerkorganisation entspricht einem Abbau von gewachsener Bürokratie.

Die digitale Transformation relativiert Unternehmensgeheimnisse. Denkt man die Netzwerkorganisation zu Ende, hat diese keine Grenzen mehr – weder interne noch externe. Es gibt keine Hierarchien, Abteilungen und Untergrenzen mehr. Das macht sämtliche Geheimnisse und Patente obsolet. Wie soll eine Netzwerkorganisation funktionieren, wenn Freelancer keinen Zugang zum Wissen der Organisation haben? Wie soll sich die Holocracy entfalten, wenn es Daten und Erkenntnisse gibt, die nicht allen zugänglich sind? Wie soll die Innovationskraft von Unternehmen oder Gesellschaften gestärkt werden, wenn Ideen zurückgehalten werden? Netzwerkorganisationen wachsen zu einem einzigen Informationskosmos zusammen, in dem alles für alle sichtbar ist. Ohne diesen letzten Schritt werden sich deren Versprechen nie erfüllen.

Die digitale Transformation forciert «The Winner Takes it All»-Effekte. Die Digitalisierung – und die entstehenden Plattformen implizieren ausgeprägte The-Winner-Takes-It-All-Effekte. Sie stärken Unternehmen und Staaten, die begreifen, was sich durch die Digitalisierung verändert, welche Bedürfnisse entstehen, welche Geschäftsmodelle funktionieren und welche Fähigkeiten es für deren Umsetzung und Weiterentwicklung braucht. Die Selbstverstärkung basiert auf der Integration der Kundenkontakte und Beziehungen beziehungsweise auf der Bündelung der Aufmerksamkeit. Von diesen Effekten profitieren auch einzelne Menschen. Sie fungieren als Mini-Plattformen, auf denen sich viele Verbindungen des Netzwerkes schneiden, und können dadurch ihre Wertschöpfung multiplizieren. Wer diese Mechanismen nicht versteht und keine Nische besetzen kann, geht vergessen.

Diese fünf Beobachtungen machen eines deutlich: Wir stehen erst am Anfang der digitalen Transformation. Sie fordert nicht nur von Unternehmen neue Betriebssysteme (Geschäftsmodelle, analoge und digitale Arbeitswelten, Arbeitsverhältnisse, Führungsverständnisse, verändertes HR, People und Workplace Analytics) – sondern auch von uns als Gesellschaft. Um die Verkürzung der Lebenszyklen und die stärkere Ökonomisierung der Arbeit aufzufangen, brauchen wir unter anderem neue Versionen der in die Jahre gekommenen Bildung-, Steuer- und Sozialversicherungssysteme.

5 comments for “Fünf selten ausgesprochene Wahrheiten über die digitale Transformation

  1. 11. September 2016 um 15:00

    Ich finde es begeisternd, wenn die humanistische und humane Seite der Transformation zum Thema gemacht wird. Was mich allerdings immer und immer wieder frappiert ist, dass alles viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als man uns weiss machen will. Die heute diskutierten Themen stehen schon Jahrzehnte auf der Tagesordnung (was den Autor betrifft: http://files.hanser.de/hanser/docs/20131107_2131179929-54_35%20Jahre%20Informatik%20f%C3%BCr%20Ingenieure.pdf ) und wurden von ca. 3 Jahren beim Besuch von Obama bei Merkel von jener als Neuland fuer die Politik bezeichnet. „Dagegen“ haben sich einige Koepfe, von denen viele seit > 30 Jahren mit Fragen der digitalen Transformation befasst sind, zusammengetan und dieses Buch publiziert:
    http://www.nomos-shop.de/Klumpp-Lenk-Koch-%C3%9Cberwiegend-Neuland/productview.aspx?product=25504
    Worum’s geht: grosse Paradigmenspruenge finden nach wie vor in Generationen statt.

  2. 8. Juni 2016 um 18:08

    Der Artikel bringt es auf den Punkt und ich bin auch der Meinung, dass die digitale Transformation erst in die Gesellschaft integriert werden muss.

    Die Coaching Themen haben sich insofern geändert als, dass sich die Themen vor Jahren auf die oberste Stufe der Mashlow Pyramide bezogen haben.
    Heute sind es Themen die sich um das Grund-, Sicherheits- und/oder Sozialbedürfnisse beziehen. Die Welt hat sich nicht verändert. Aber im Vergleich zu früher hat sich die Wirtschaftslage verändert. Die Computerbranche hat enorme Fortschritte gemacht, die Pharmaindustrie forscht und entwickelt weiter. Die Aufzählungen sind nicht abschliessend aufgeführt. Die Weiterentwicklungen sind unaufhaltsam, sehr dynamisch und sind wichtig. Aber im gesamten Prozess fehlt der Mensch. Wo sind die Entwicklungen für den Mensch, dass all die Entwicklungen in das Leben integriert werden können.

  3. Christian Vandersee
    3. Juni 2016 um 13:30

    Der Artikel bringt viele absolut wichtige Aspekte auf den Punkt und ist daher gut und lesenswert. Er beschreibt die zunehmende Abhängigkeit zwischenmenschlichen Austauschs von Chips und Stromanschluss. An zwei Stellen scheint mir besonders Respekt geboten:

    1. Dass die digitale Technologie uns bald auch sprichwörtlich unter die Haut geht, ist fast schon Tatsache, obwohl die Hemmschwelle beim Implantat eines Microchips weit grösser sein dürfte, als beim Kauf oder Download einer upgrade-Version eines Handhelds. Allerdings sind hier vermutlich Erlbeniszuwachs, Erfahrungswerte und Know How weniger relevante Voraussetzungen, als eine massive Erleichterung des operational Management: Was den organisatorischen Tagesablauf und die Effizienz der Augabenerledigung markant steigert, hat äusserlich grosse Chancen, auch umgesetzt (bzw. ein-gesetzt) zu werden, auch gegen alle gesundheitlichen und sozialen Bedenken – und wahrscheinlich auch gegen Bedenken des Persönlichkeits- und Datenschutzes.

    2. Der Artikel beschreibt grossenteils Abläufe, die den Mehrwert der Digitalisierung für Unternehmen zusammenfassend alle unter „Corporate Restructuring“ summieren lassen. Es wird aber am Anfang und am Schluss dieses Beitrags auch deutlich, wie sehr der vermeintliche Nebeneffekt dieser Entwicklung in die privaten und sozialen Lebenskomponenten eingreift. Ein „Social Restructuring“ impliziert damit scheinbar verhängnisvolle Konsequenzen nicht nur für unsere gesamte Kommunikation, sondern auch unser Fortbewegungs- und Einkaufsverhalten, unsere Freizeit- und rholungsgestaltung.

    Richtig ist auch: Wir stehen erst am Anfang der digitalen Transformation. Allerdings gibt es auch die fröhliche Beständigkeit der analogen Formen: Im Buchbereich werden gedruckte Bücher seit Jahren totgesagt, dennoch ist – bei steigender Digitalisierung – auch der physische Büchermarkt recht gesund. Genauso wird die grosse Verbreitung digitaler Elemente einhergehen mit einer Transformation auf der analogen Seite, die das Menschliche auch bei Stromausfall weitertransportiert.

  4. Susanne Hoare
    2. Juni 2016 um 16:07

    „.. dort stoppen, wo sie nur vernichtet, aber keine sinnvollen Werte schafft.“ Wie wahr, aber wie schwierig umzusetzen. Werden wir die Grenzen rechtzeitig erkennen und entsprechende Widerstandskräfte bündeln können?

  5. 2. Juni 2016 um 15:30

    Ein interessanter und zu Rech auch kritischer Artikel. Im Kern hat die Digitalisierung bei näherem Hinsehen nebst zahlreichen Verbesserungen eben auch fragwürdige Prioritäten und Fokussierungen. Sie dient vielfach nur dazu, Prozesse zu optimieren, Kosten einzusparen, Effizienzsteigerungen zu erzielen, Personalkosten zu senken, Ressourcen zu sparen und zu steuern und mehr.

    Algorithmen sind nicht selten fehlerhaft und führen zu falschen Schlüssen, die künstliche Intelligenz ist auch heute weit davon entfernt, wirklich intelligente oder komplexe Leistungen zu erbringen und ein grosses Risiko besteht in der Tatsache, algorithmisierte Entscheidungen und Prozesse oft gar nicht mehr nachvollziehen und verstehen oder gar stoppen zu können. Hinzu kommt der soziale Aspekt: In Freelancer-Portalen verschenkt man Arbeitskraft, versteigert sie und verkauft sie oft unter Wert an den Meistbietenden.

    Soll man das Rad zurückdrehen, die Digitalisierung stoppen und sich ihr verweigern? Nein, mit Sicherheit nicht. Sie bietet zu viele Vorteile und ist schon heute in zu vielen Bereichen nicht mehr wegzudenken.

    Was wir aber dringend machen müssen: Ihr den Heiligenschein nehmen, die Konsequenzen kritisch und transparent prüfen, Politik und Wirtschaft in die Pflicht nehmen, die Gesetzgebung aktualisieren und die Digitalisierung dort stoppen, wo sie nur vernichtet, aber keine neuen sinnvollen Werte schafft.

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