Diversity ist im Jahr 2022 kein Nice-to-have-mehr. In Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels wird eine vielfältige Belegschaft, die offen für alle ist, zum Erfolgsfaktor Nummer eins. Und die ersten Unternehmen fangen an, Diversity aktiv zum Thema im Employer Branding zu machen. Man wirbt dabei gerne mit Bildmotiven, die vielfältig wirken sollen. Was ich allerdings nicht sehe: Menschen mit Behinderung. Warum eigentlich nicht?
Von McKinsey bis PwC: Es wimmelt von Studien, die belegen, dass diverse Unternehmen erfolgreicher und innovativer sind. Trotzdem sind Diversity und Inklusion bei über der Hälfte der Unternehmen nicht im Employer Branding verankert. Dabei gewinnen vor allem das Unternehmensimage und die Attraktivität als Arbeitgeber durch das intern und extern Bekenntnis zu einer gemischten Belegschaft.
Regenbogenflaggen reichen nicht
Doch der Diversity-Begriff im Employer Branding beschränkt sich meist auf Alter, Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft sowie sexuelle Orientierung – und manche Diversity-Kampagne entpuppt sich beim näheren Blick auf die Organisation als Lippenbekenntnis. Welche Ausmasse das annehmen kann, zeigt der aktuell gefeierte Pride Month: Die sozialen Netze sind gespickt von Regenbogen-Logos. Jedes Unternehmen zeigt sich als tolerant und weltoffen für multinationale Teams und vielfältige Geschlechteridentitäten. Der Digitalverband Bitkom hat extra zu diesem von der LGBTQ+-Community initiierten Aktionsmonat eine Studie veröffentlicht, nach der 97 Prozent der befragten Digitalunternehmen dem Thema Diversity aufgeschlossen gegenüberstehen.
Ich wünschte mir, es wäre so. Aber es erinnert mich doch noch zu oft an eine Liedzeile der Gruppe REM: «Shiny happy people holding hands.»
Wo sind die Anderen?
Ein Aspekt fällt mir mittlerweile besonders auf, und er lässt mich nicht mehr los. Wo sind Menschen mit Behinderung? Warum tauchen sie im Employer Branding kaum auf? Können Sie sich beispielsweise erinnern, eine Stellenanzeige mit Menschen im Rollstuhl gesehen zu haben? Stören Behinderte das Bild vom grossen Glück am Arbeitsplatz? Sehen wir Behinderung als Schwäche, als Makel, als Leistungsmangel an? Warum hat Behinderung in einer authentischen Arbeitgeberpositionierungen keinen Platz?
Ich will hier niemanden anklagen, ich habe die Dimension des Themas Diversity selbst über viele Jahre nicht ausreichend aktiv und stark bei Kundinnen und Kunden vertreten. Ich dachte immer, es sei nicht meine Kernaufgabe, und es würde sich schon jemand darum kümmern. Aber so ist es nicht. Für Deutschland gibt es dazu sogar ein paar Zahlen. Behinderung wird laut der Diversity-Studie 2020 der Charta der Vielfalt von den meisten Unternehmen als «schwierige Diversity-Dimension» angesehen. Auch der «German Diversity Monitor 2021» der Initiative Beyond Gender Agenda kommt zu dem Schluss, dass Menschen mit Behinderungen selten im Fokus des Diversitätsengagements der Unternehmen stehen. Das wirkt sich auf die Erwerbstätigen-Quote der Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen aus. Laut Statistischem Bundesamt waren 2021 nur knapp 57 Prozent der Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren berufstätig oder suchten nach einer Tätigkeit.
Wann verlassen wir die Diversity-Komfortzonen?
Ich bin Vater eines dreijährigen, neurodiversen Sohnes. Ich möchte, dass Maximilian zu seiner Zeit die gleiche berufliche Teilhabe erlebt wie alle anderen.
Was er dann braucht, ist die Bereitschaft zu echter Inklusion. Das bedeutet Arbeit, Anpassung der Arbeitswelt und innere Veränderung bei Führungskraft, Kollegin und Kollege. Wenn Autistinnen und Autisten oder ADHS-Betroffene im Büro sind, kann ich vielleicht nicht mehr spontan lauthals lachen oder jemanden nebenan mit einem Geburtstagsständchen überraschen. Regenbogen-Logos gibt es zum Nulltarif. Inklusion nicht. Sie geht auf Kosten der Gewohnheit und des eigenen Verhaltens. Und es lohnt sich: Wenn ich die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung als Bereicherung betrachte, bekomme ich mehr zurück als ich gebe.
Wenn Maximilian die Arbeitswelt betritt, wird das gang und gäbe sein. Er wird davon profitieren, dass Menschen wie Sie und ich heute den nächsten Schritt gehen. Durchaus auch aus Eigennutz: Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben besondere kognitive Stärken, die in der IT entscheidend sind. Obwohl alle händeringend Tech-Fachkräfte suchen, sind Autistinnen und Autisten immer noch eine Zielgruppe im toten Winkel.
Die Plattform auticon.ch meldet, dass rund 85 Prozent aller Autistinnen und Autisten in der Schweiz trotz guter Ausbildung arbeitslos sind.
Dass das nicht sein muss, zeigt die IT-Beratung Akquinet aus Hamburg. Jeder und jede zehnte Mitarbeitende hat eine Behinderung. Zusammen mit der Evangelischen Stiftung Altersdorf betreibt Akquinet vier Rechenzentren, in denen sogar vier von zehn Mitarbeitenden eine Behinderung haben.
Toter Winkel? In der Schweiz leben 1,324 Millionen Menschen mit Behinderung, meldet das Netzwerk Myability.org (Stand 2018). Bei einer Gesamtbevölkerung von geschätzt 8,8 Millionen ist das ein gewaltiges Arbeitsmarktpotenzial, das die Unternehmen nicht im Ansatz nutzen.
Wenn wir mehr Menschen mit Behinderung Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen wollen, muss Diversity ein Bestandteil der Unternehmenskultur sein. Im Employer Branding gilt immer: Eine Arbeitgeberpositionierung ist nur dann authentisch und überzeugend, wenn sie die Unternehmenskultur abbildet. Idealerweise findet Inklusion automatisch ihren Weg in die Arbeitgebermarke, wenn sie gelebt wird. Denn das heisst für die Praxis: Zuerst intern analysieren, wie divers und inklusiv Ihr Unternehmen wirklich ist. Und wenn da noch Luft nach oben ist: Mut zur Wahrheit und Ärmel hochkrempeln.
Hier einige Tipps, wie Sie Ihre Unternehmenskultur für Menschen mit Behinderung öffnen:
- Führungskräfte als interne und externe Vorbilder gewinnen
- «DisAbility Managerinnen und Manager» als Ansprechpartnerinnen und -partner einsetzen
- Barrierefreiheit umsetzen
- Aktionstage wie «Disability Day» etablieren, um Beschäftige mit Behinderung sichtbar zu machen
- Quote als Ziel setzen
- Jobprofile anpassen und auf barrierefreien Jobportalen inserieren
Anstatt zu erzählen, wie divers und inklusiv Sie auf einmal sind, lassen Sie zum Beispiel ihre Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung selbst berichten, warum sie gerne bei Ihnen und nicht woanders arbeiten. Machen Sie ganz «normale» Beschäftigte zu Markenbotschafterinnen und – botschafter. Treten Sie in Dialog mit Menschen mit Behinderung. Nutzen Sie ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten. Reden Sie mit ihnen, nicht über sie.
Employer Branding bietet Ihnen eine grosse Bandbreite an Möglichkeiten, sich mit einer differenzierenden Arbeitgebermarke positiv abzuheben.
Und allen Profis, die seit vielen Jahren schon alles gemacht haben, was man tun kann, sei gesagt: Employer Branding ist noch lange nicht am Ende. Bei Themen wie Diversity fangen wir ja gerade erst an, darüber nachzudenken, wie wir Unternehmenskulturen und Arbeitgebermarken verändern müssen und kommunizieren können, damit jede und jeder eine sinnstiftende Tätigkeit findet.
Hey Maxi, die Zukunft gehört Dir!
Hier einige Projekte, die schon viel bewegen:
https://specialisternefoundation.com/
https://www.discovering-hands.de/
https://autismus-spektrum.ch/autismus-am-arbeitsplatz/
Vielen Dank für diesen Beitrag!
EnableMe Jobs bietet Unternehmen eine Partnerschaft zur Förderung von Diversity & Inclusion. Darin enthalten sind unter anderem das Ausschreiben von Stellen auf einer barrierefreien Plattform. Mehr Informationen dazu hier: https://www.enableme.ch/de/diversity-inclusion-partnerschaft
Die gemeinnützige Stiftung MyHandicap, welche das Portal betreibt, engagiert sich seit rund 17 Jahren für mehr Inklusion von Menschen mit Behinderungen.
Nicht aufgeführt, aber ebenfalls sehr empfehlenswert: https://mitschaffe.ch/
Seit 2019 baut mitschaffe.ch sein Angebot sukzessive aus, damit in der ganzen Deutschschweiz Menschen mit Handicap und Unternehmen von unserem Angebot profitieren können.
Herzlichen Dank für die Ergänzung, Frau Batzlen! Ich werde mir das Projekt anschauen. Beste Grüsse – Reiner Kriegler