Der «Perfect Match»-Wahn

Christoph Jordi HR Strategie

Fortschritt, nicht Perfektion: Viele Unternehmen suchen nach Personen, die perfekt auf das gewünschte Stellenprofil lassen. Dabei gewinnen sie selten.

«Wir finden einfach niemanden.» Diese Klage höre ich derzeit in jedem zweiten Gespräch mit HR-Verantwortlichen. Interessant. Denn gleichzeitig landen täglich Bewerbungen in den Postfächern. Das Problem? Sie passen nicht zu 100 Prozent.

Willkommen beim Zero-Gap-Paradox: Während Schweizer KMU öffentlich über Fachkräftemangel klagen, sortieren ihre HR-Abteilungen fleissig 90 Prozent der Bewerbungen aus. Zu wenig Erfahrung. Falsche Branche. Quereinsteiger? Zu riskant. Der CV passt nicht exakt zum Profil? Next. Das Resultat: Stellenanzeigen laufen sechs Monate. Projekte verzögern sich. Teams brennen aus. Und irgendwo sitzt eine motivierte Kandidatin oder ein motivierter Kandidat, die oder der 75 Prozent der Anforderungen erfüllt und die restlichen 25 Prozent in drei Monaten lernen könnte – aber nie die Chance bekommt.

In über 75 Employer-Brand-Projekten haben wir eines gelernt: Das Problem liegt selten am Marketing. Es liegt an der fehlenden Strategie. Unternehmen denken, sie brauchen schönere Stellenanzeigen oder bessere LinkedIn-Posts. Was sie wirklich brauchen, ist ein grundlegend anderer Ansatz bei der Personalgewinnung.

Die teuersten Märchen im Schweizer Recruiting

Märchen Nummer eins: «Wir finden einfach niemanden.» Die Realität? Ihr findet niemanden, der zu 100 Prozent auf euer Fantasieprofil passt. Die letzten drei Absagen waren bei 72, 81 und 68 Prozent Match. Das sind keine «nicht qualifizierten Kandidatinnen und Kandidaten», das sind valide Optionen, die aus Bequemlichkeit aussortiert wurden.

Märchen Nummer zwei: «Quereinsteiger sind zu riskant.» Wirklich? Eure «sicheren» Kandidatinnen und Kandidaten mit perfektem CV sind nach sechs Monaten weg, weil sie sich unterfordert fühlen oder das nächste bessere Angebot nehmen. Menschen mit Quereinsteiger-Biografie haben oft mehr Resilienz, Lernfähigkeit und Commitment – weil sie sich bewusst für diesen Weg entschieden haben.

Märchen Nummer drei: «Wir müssen nur noch ein bisschen besser suchen.» Ihr postet die gleiche langweilige Stellenanzeige auf 15 Portalen, schaltet LinkedIn-Ads und wartet. Das ist kein Recruiting, das ist Hoffnung. Wenn ihr nach sechs Monaten niemanden gefunden habt, liegt es nicht am Markt. Es liegt an eurem Ansatz.

Was wirklich funktioniert

Die 60/40-Regel: Teilt euer Stellenprofil auf. 60 Prozent sind Pflicht – fachliche Kernkompetenzen, die sofort gebraucht werden. 40 Prozent sind «nice to have» und können in drei bis sechs Monaten entwickelt werden. Nehmt euer aktuelles Profil und markiert: Grün = Tag 1 notwendig. Gelb = innerhalb von drei Monaten lernbar. Rot = schön, aber nicht kritisch. Veröffentlicht nur das Grüne. Das Gelbe wird zur Entwicklungschance.

Ein Schweizer Startup suchte acht Monate einen «Senior Product Owner mit Fintech-Erfahrung». Nichts. Dann: 60/40-Regel angewendet. «Product Owner mit Tech-Verständnis» – Fintech-Know-how als On-the-Job-Learning. Besetzt in vier Wochen. Die Person ist jetzt Product Lead.

Potenzial-Interviews statt CV-Lotterie: Der CV zeigt die Vergangenheit. Ihr braucht aber jemanden für die Zukunft. Gebt Kandidatinnen und Kandidaten ein reales Miniprojekt (zwei bis drei Stunden, bezahlt). Beobachtet: Wie gehen sie an Probleme ran? Wie lernen sie? Wie kommunizieren sie? Developer-Rolle? Gebt ihnen ein Code-Review. Marketing-Rolle? Lasst sie eure letzte Kampagne analysieren. Ihr seht, wie Leute denken – nicht nur, was sie früher gemacht haben.

Onboarding-first-Strategie: Statt perfekte Kandidatinnen und Kandidaten zu suchen, baut ein perfektes Onboarding. Gute Leute wollen lernen. Ein strukturiertes Onboarding schafft Commitment. Die ersten 90 Tage: Tage 1 bis 14 strukturiertes Kennenlernen. Tage 15 bis 30 Shadowing und kleine Aufgaben. Tage 31 bis 60 erste eigene Projekte mit Mentor. Tage 61 bis 90 volle Verantwortung mit regelmässigen Check-ins. Der ROI: Investiert 20 Prozent mehr Zeit in Onboarding, reduziert eure Anforderungen um 40 Prozent und verkürzt Time-to-Hire um 60 Prozent. Was kostet euch eine neunmonatige Vakanz? Oder eine Fehlbesetzung nach sechs Monaten?

Transparenz als Strategie: Schreibt in eure Stellenausschreibung, was wirklich wichtig ist. Beispiel: «Wir suchen keine perfekten Kandidatinnen und Kandidaten. Wir suchen jemanden, der X, Y und Z mitbringt – und bereit ist, A und B in den ersten Monaten mit uns zu entwickeln. Wenn du 60 Prozent der Anforderungen erfüllst und denkst ‹Das ist genau mein Ding›, bewirb dich.

Ehrlichkeit ist selten und fällt auf. Ihr sprecht Menschen an, die sich sonst nicht getraut hätten. Menschen bewerben sich auf Jobs, wenn sie denken, sie haben eine Chance. Bei 100-Prozent-Profilen denken 80 Prozent der guten Kandidatinnen und Kandidaten: «Ich erfülle das eh nicht zu 100 Prozent, warum bewerben?»

Der Reality-Check

«Wir haben keine Zeit für aufwändiges Onboarding.» Aber Zeit für neun Monate Vakanz? Die Rechnung geht nicht auf.

«Unser Business ist zu komplex für Quereinsteiger.» Interessant. Wie seid ihr denn selbst reingekommen? Ach so, mit Einarbeitung.

«Was, wenn die Person nach dem Onboarding wieder geht?» Was, wenn sie bleibt und grossartig wird? Perfekte CV-Kandidatinnen und Kandidaten gehen genauso.

«Das ist doch nur für Startups.» Die härteste Realität: Gerade etablierte KMU können sich keine neunmonatigen Vakanzen leisten. Startups haben Investorengeld zum Verbrennen. Ihr nicht.

Was ihr diese Woche tun könnt

Nehmt eure aktuelle Stellenausschreibung. Druckt sie aus. Lest sie, als wäret ihr Kandidatinnen und Kandidaten. Fragt euch: Würde ich mich darauf bewerben? Klingt das nach einem Ort, wo Menschen wachsen können? Oder klingt das nach «wir suchen ein Ersatzteil»?

Drei konkrete To-dos für diese Woche: Nehmt eine Stelle, die seit über drei Monaten offen ist. Macht die Grün-Gelb-Rot-Analyse. Schreibt neu aus. Fragt eure letzten drei Einstellungen, wie ihr Onboarding war. Ehrlich. Anonym. Dann verbessert es. Schreibt eine Stellenanzeige komplett ehrlich – inklusive «was wir mit dir entwickeln». Postet sie. Schaut, was passiert.

Der Fachkräftemangel ist real. Aber die meisten Unternehmen haben kein Angebotsproblem – sie haben ein Nachfrageproblem. Sie wollen etwas, das es nicht gibt. Oder sie übersehen, was direkt vor ihnen steht.

Eure Wahl: Weiter auf Godot warten. Oder morgen anfangen, anders zu denken.

Ich rate zu Option zwei.

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