Der Fünfer und das Weggli geht nicht

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Personaldienstleistung Myra Fischer-RosingerDie Schweiz steuert wie viele andere Länder direkt und unweigerlich auf eine demografisch bedingte, weit klaffende Arbeitskräftelücke zu. Aber wahrhaben will es niemand so recht. Mit potenziell verheerenden Konsequenzen.

Die ersten Babyboomer haben ihre Rente angetreten. Weitere werden Jahr für Jahr folgen. Die nachrückende Generation ist deutlich geburtenschwächer. Der Schweizerische Arbeitgeberverband schätzt den daraus entstehenden Gap am Arbeitsmarkt in den nächsten zehn Jahren auf 200’000 Personen. Zudem liegt weniger arbeiten hoch im Trend. Unser Wohlstandsniveau erlaubt es, dass privaten Interessen mehr Zeit eingeräumt wird und dem Beruf im Teilzeitpensum, projektweise oder temporär nachgegangen wird. Doch wie lange noch?

Mehr arbeiten will kaum jemand

4-Tage-Woche und Workation entsprechen den neuen Idealen. Damit ist nicht gemeint, dass sich die Leute auf die faule Haut legen. Aber, dass es neben dem Job noch Platz für Anderes geben soll. Sichtbar wird das auch an den Statistiken zum Arbeitsvolumen des Bundesamts für Statistik: Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) ist die Zahl der Teilzeiterwerbstätigen zwischen 2012 und 2022 mehr als drei Mal so stark angestiegen wie jene der Vollzeiterwerbstätigen. Der Anteil Teilzeitarbeitender betrug im Jahr 2022 35 Prozent. Zwischen 2017 und 2022 ist die tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit der Vollzeitarbeitnehmenden durchschnittlich um 59 Minuten auf 39 Stunden und 59 Minuten zurückgegangen. Nur 5 Prozent der Erwerbstätigen geben gemäss SAKE 2023 an, mehr arbeiten zu wollen. Gemäss einer Umfrage von Sotomo aus dem Jahr 2022 finden hingegen Zweidrittel (!) der Befragten, dass man in der Schweiz allgemein zu viel arbeite.

Wenn ein breiter Teil der Erwerbsbevölkerung weniger arbeitet, führt dies über kurz oder lang dazu, dass die gemeinsame Produktion und damit das BIP pro Kopf schrumpfen. Ein Teil kann durch Produktivitätssteigerungen kompensiert werden. Aber Produktivitäts¬steigerungen sind kein Naturgesetz. Und das Ganze wird dadurch akzentuiert, dass die Erwerbsbevölkerung demografisch bedingt schrumpft.

Länger arbeiten ist auch unbeliebt

Ein Baustein zur Lösung könnte sein, dass wir zwar nicht mehr, aber dafür länger arbeiten. Aber auch die Erhöhung des Rentenalters hat erst kürzlich eine deutliche Abfuhr an der Urne kassiert. Die Schweizer wollen weder mehr noch länger arbeiten.

Das ist eine Wahl, die man treffen kann. Doch sie hat Konsequenzen. Die Hoffnung, sowohl den Rückgang des Arbeitsvolumens als auch die demografisch bedingte Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung über Produktivitätssteigerungen aufzufangen, ist illusorisch.

Mehr Zuwanderung ist umstritten

Sollen es also Zuwandernde richten? Die Schweiz hat mit der Personenfreizügigkeit uneingeschränkten Zugang zum Arbeitskräftereservoir der Europäischen Union. Als attraktives Land mit einer (noch) hohen Lebensqualität hat die Schweiz gewisse Trümpfe im internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte. Aber die demografische Uhr tickt überall in Europa.

Und die Zuwanderung ist in der Schweiz ein politisch heisses Eisen. Die Rechte möchte keine 10-Millionen-Schweiz, und die Linke will sich ihre Zustimmung zur Weiterentwicklung der Bilateralen mit der EU teuer erkaufen – mit derart weitreichenden Forderungen, dass sie damit den liberalen Arbeitsmarkt gefährdet.

Das Inländerpotential ist quasi ausgeschöpft

Unverfänglich und mehrheitsfähig klingt hingegen die Ausschöpfung des Inländerpotentials. Lösungsvorschläge wie die bessere Arbeitsmarktintegration von Frauen und Eltern, von älteren Arbeitnehmenden und Menschen mit Behinderung sind sehr sympathisch. Das einzige Problem damit: Sie sind ein Tropfen auf den heissen Stein. Denn mit einer Erwerbsquote von hohen 84 Prozent im Jahr 2022 gibt es nicht mehr viel im Inland auszuschöpfen. Der Schweizerische Arbeitgeberverband schätzt das inländische Potential auf rund 7’500 Personen mehr pro Jahr.

Also weniger Wohlstand?

So drängt sich die Frage auf, ob wir bereit sind, die Konsequenzen zu tragen – ein gebremstes BIP-Wachstum oder vielleicht sogar ein BIP- und Wohlstandsrückgang. Auch diese Wahl kann man selbstverständlich treffen. Wir haben in der Schweiz, zumindest für weite Bevölkerungskreise, ein sehr hohes Wohlstandniveau erreicht, so dass man sich tatsächlich mit der Frage auseinandersetzen kann, ob weniger vielleicht auch mehr sein könnte. Doch wirkt es im Moment eher so, als würden wir blindlings auf dieses Szenario zusteuern und nicht aufgrund eines bewussten, wohl abgewogenen Entscheids.

Bei einem «weniger-ist-mehr-Entscheid» ist zudem zu berücksichtigen, was Ökonomen schon länger festgestellt haben: Für uns Menschen wiegen Verluste schwerer als Gewinne, und an Gewinne gewöhnt man sich mit der Zeit, während der Schmerz des Verlustes andauert. Man sollte es sich also sehr genau überlegen, ob man leichtfertig auf Wohlstand verzichten möchte oder vielleicht doch lieber etwas mehr oder länger arbeitet. Mit dem Megatrend «Flexwork» sollte es ja möglich sein, auch mehr Arbeitszeit so auf seine Lebenszeit zu verteilen, dass für private Interessen genügend Raum verleibt.

2 comments for “Der Fünfer und das Weggli geht nicht

  1. 19. April 2024 um 10:47

    Absolut nachvollziehbar und ich denke jetzt noch ein wenig weiter… was bedeutet denn Wohlstand?
    Brauchen wir wirklich volle Regale bis zum Ladenschluss/jeden Tag Ananas/genau DAS Fleischli? Oder könnten wir nicht auch mehr der Natur nach, saisonal einkaufen. Mal was anderes kochen, wenn es DAS Fleischli nicht hat…?

    Müssen wir wirklich immer das neueste Handy/Auto/Kleider haben? Oder hält das alte nicht auch ein paar Jahre, wenn man den Reset/Service hin und wieder macht und ihm Sorge trägt?

    WENIGER VERBRAUCHEN fängt im Kleinen an und tut weniger weh, wie mehr arbeiten… und wäre grad eine mögliche Lösung. ;)

  2. 18. April 2024 um 16:32

    Der Beitrag regt zum Nachdenken über die Zukunft der Arbeitswelt und die individuelle Work-Life-Balance an.

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